Die fremdenfeindlichen Krawalle in Heidenau passierten genau dort, wo man sie am ehesten hätte erwarten müssen

von Achim Goerres

Heidenau liegt genau in dem Wahlkreis, in dem rechte Parteien außerordentlich gut abschneiden. Mobilisierung von rechten Sympathisanten und die Äußerung fremdenfeindlicher Meinungen sind in solchen Konstellation besonders einfach.

 

In Heidenau wurde es am 27.08.2015 verboten, öffentliche Versammlungen abzuhalten. Damit regierte die lokale Behörde auf die gewalttätigen Krawalle, bei denen Rechtsextreme zu Hunderten vor dem Erstauffanglager randaliert hatten und 30 Polizisten verletzt hatten. Es herrschte Ausnahmezustand. Am 28.08.2015 wurde das Verbot von einem Dresdner Gericht wieder aufgehoben.

Die Krawalle waren am zweiten Tag aus einer Demonstration entstanden, die der NPD-Stadtrat Rico Rentzsch für den 20.08.2015 angemeldet hatte.

Die schrecklichen Geschehnisse in Heidenau erinnerten mich an eine Analyse der Wahlergebnisse der NPD und der AfD in Sachsen bei der Landtagswahl. Darin habe ich gezeigt, dass die AfD und NPD in den gleichen Wahlkreisen in der Tendenz besser abschneiden.

Heidenau liegt im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge 3.

Dort wurden  8,7 % der Listenstimmen der NPD und 11,0 % der AfD gegeben. Damit haben fast ein Fünftel aller Wählerinnen und Wähler einer nationalkonservativen bis rechtsextremen Partei ihre Stimme gegeben.

Dieser Wahlkreis hatte das drittbeste Ergebnis für die NPD aus 60 sächsischen Wahlkreisen und immerhin noch das 16beste Ergebnis für die AfD.

Dieser Hintergrund ist bezüglich der Krawalle vermutlich aufgrund von zwei Kausalketten wichtig:

  1. Die NPD kann einfacher lokal Protestierende mobilisieren, wenn sie relativ viele Wählerinnen und Wähler hat.
  2. In diesem Wahlkreis ist es einfacher fremdenfeindliche Meinungen zu äußern, weil man aufgrund der Wahlergebnisse sicher sein kann, ähnliche Meinungen um sich zu haben, als in Wahlkreisen, in denen rechte Parteien sehr wenig gewählt werden. Der Effekt sozialer Erwünschtheit (man sollte keine fremdenfeindlichen Parolen äußern) wird hier minimiert.

So traurig es auch ist:

dass eine Kundgebung eskalierte und gewalttätig, massiv und fremdenfeindlich wurde, konnte man in einem sozial-politischen Kontext wie Heidenau am ehesten erwarten.

 

 

 

Nachrichten aus den folgenden Quellen:

http://www.dw.com/en/german-court-overrules-heidenau-demo-ban/a-18678835

http://www.sueddeutsche.de/politik/heidenau-los-schimpfen-sie-auf-die-boesen-ossis-1.2623298

http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2015/08/27/zahlreiche-bekannte-neonazis-bei-ausschreitungen-in-heidenau_20099

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , | Ein Kommentar

Nein, wir brauchen keinen Wahlführerschein! Eine Replik auf den Beitrag von Gordian Ezazi

Von Florian Rabuza

In seinem Blogbeitrag „Politische Gleichheit und der ,Wahlführerschein´ “ auf regierungsforschung.de spricht der Autor Gordian Ezazi über die Debatte um die Einführung von Wahlpflicht in Demokratien und einem damit verbundenen höheren Maß an politischer Gleichheit. Er sieht die Einführung von Wahlpflicht kritisch und weist darauf hin, dass die bloße numerische Erhöhung der Wählerzahlen allein, die durch Wahlpflicht erreicht würde, noch keinen Zuwachs an politischer Gleichheit bedeute. Den neuen Wählerschichten fehlten nämlich grundlegende politische Fähigkeiten zur Artikulation wohlinformierter Interessen, weshalb Ezazi zusätzlich für die Einführung eines, wie er es nennt, „Wahlführerscheins“ [Anführungszeichen im Original] plädiert, der grundlegende politische Kompetenzen sicherstellen solle. In diesem Blogbeitrag möchte ich mich mit den theoretischen, methodischen und praktischen Problemen auseinander setzen, die den Ideen des Beitrags zu Grunde liegen, insbesondere mit dem völligen Fehlen einer demokratiegeschichtlichen Perspektive. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass zum einen die Effekte von Wahlpflicht auf die Gleichheit der Wahlbeteiligung von gesellschaftlichen Schichten unvollständig dargestellt werden und zum anderen nicht gesehen wird, dass politische Gleichheit im Sinne von Repräsentation von Interessen durch die parteiensystemischen Effekte von Wahlpflicht verbessert wird. Der wichtigste Punkt ist aber theoretischer Natur: Was sind politische Kompetenzen, die ein Wählerführerschein abprüfen bzw. sicherstellen soll?

Wahlpflicht

Viele sehen in der Einführung von Wahlpflicht ein vielversprechendes Mittel zur Förderung politischer Gleichheit im Sinne hoher Wahlbeteiligung über gesellschaftliche Schichten hinweg. Der Autor übernimmt diese Position und übersieht dabei ein entscheidendes Problem. Wahlpflicht sorgt zwar meist dafür, dass  viele Nichtwähler zu Wählern werden. Sie erfüllt eine egalisierende Funktion aber nur dann, wenn die Wahlbeteiligung  der Privilegierten in einem politischen System ohnehin schon sehr hoch ist. Dies rührt daher, dass Wahlpflicht keine heterogenen Effekte auf verschiedene Bevölkerungsgruppen zeitigt: Die Einführung von Wahlpflicht betrifft erst einmal alle Wähler in gleichem Maße und man muss sogar annehmen, dass die privilegierten Wählerschichten stärker auf sie reagieren. Ihre Wahlbeteiligung steigt somit mindestens in gleichem Maße wie die der schwächeren sozialen Schichten. Erst wenn die Wahlbeteiligung der sozial besser gestellten Wähler bereits sehr hoch ist, kann sich die Lücke durch einen mechanischen Effekt, den sog. ceiling-Effekt, tatsächlich schließen und damit mehr politische Gleichheit entstehen. Gallego (2014) legt dies sehr überzeugend dar. Diese wäre tatsächlich ein gewichtiges Argument gegen die Einführung von Wahlpflicht, da die von den meisten Menschen angenommenen Effekte gegen die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung gar nicht automatisch eintreten.

Jenseits der Effekte auf die Wahlbeteiligung hat Wahlpflicht aber, wie empirisch gezeigt wurde, entscheidende Effekte auf das Parteiensystem, indem sie z.B. ein breiteres ideologisches Spektrum erzeugt, in dem vor allem linke Parteien stärker repräsentiert sind. In diesem Sinne sind die positiven Effekte von Wahlpflicht (Jensen & Spoon, 2011) in Bezug auf die politische Repräsentation der Interessen unterschiedlicher sozialer Schichten nicht von der Hand zu weisen. Ihre Einführung würde demnach zumindest die Angebotsseite der Politik zugunsten der weniger privilegierten Wählerinnen und Wähler verändern, was für jeden, der politische Gleichheit als demokratisches Ideal betrachtet, wünschenswert ist.

Wahlpflicht kann auch aus anderen Gründen ein Weg zu mehr politischer Gleichheit sein. Die Habitualisierung politischer Partizipation ist ein theoretisch und empirisch etabliertes Konzept. Wer einmal wählen geht, tut es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wieder (Plutzer, 2002). Außerdem hat politische Partizipation als solche, wie der Autor selbst anmerkt, einen bildenden Effekt (Tolbert & Smith, 2005). Partizipation ist also nicht nur Wirkung sondern auch Ursache politischen Interesses und politischer Kompetenzen. Der einmal habitualisierte Wahlakt trägt damit in einer langfristigen Perspektive zumindest im Schnitt zur Erhöhung politischen Interesses und politischem Wissen bei und nimmt dem Argument eines durch Wahlpflicht stärker uninformierten Elektorats damit einigen Wind aus den Segeln. Was Partizipation ursprünglich ausgelöst hat, ist in dieser Perspektive egal, Hauptsache ist, dass der Prozess an irgendeiner Stelle angestoßen wird. Und wenn Wahlpflicht diese initialisierende Funktion erfüllt, dann ist das positiv zu bewerten.

 

Der Wahlführerschein

Der Autor plädiert in seinem Beitrag für die die Wahlpflicht begleitende Einführung eines Wahlführerscheins als ein „inkrementell zu durchlaufendes Testverfahren“. Auch wenn der Autor diesen Begriff in Anführungszeichen setzt, ruft er unweigerlich Assoziationen zu Konzepten wie Eignungsfeststellung oder-diagnostik hervor. Wenn dies nicht intendiert war, dann ist der Begriff zumindest sehr unglücklich gewählt. In der Wahlforschung ist hinlänglich bekannt, dass Tests z.B. in den USA als Repressionsinstrument vor allem schwarzer Wählerinnen und Wähler eingesetzt worden sind (Filer et al., 1991). Aber auch jenseits solcher krasser Beispiele zeigt die Forschung überdeutlich, dass jegliches institutionelles Arrangement, das den Wahlakt kognitiv oder logistisch schwieriger macht (vor allem aufwändige Registrierungsmechanismen oder komplizierte Wahlzettel), die Wahlbeteiligungen der niedrigeren sozialen Schichten negativ beeinflusst (z.B. Gallego, 2014; Pardos-Prado et al., 2014). Deshalb ist jedes Arrangement, das in diese Richtung zielt rigoros abzulehnen, solange man dem Prinzip one man, one vote anhängt. Von der Durchführbarkeit und den Problemen des Agenda-settings solcher Informations- und Testmaßnahmen zu sprechen wurde aus Platzgründen verzichtet.

Die wichtigste Frage lautet aber: Was sind eigentlich jene politische Kompetenzen, die der Autor anspricht? Sind das Kenntnisse über die Ausgestaltung des politischen Systems? Ist man kompetent, wenn man die etablierten Parteien benennen kann, weiß wie der Bundespräsident gewählt wird und welchen politischen Gestaltungsspielraum die Bundeskanzlerin hat? Letztlich sind solche Kompetenzen latente Konstrukte, die man irgendwie messen, also z.B. in Tests abprüfen, müsste. Das allein ist schon sehr schwierig, wie beispielsweise die Literatur zur Messung politischen Wissens zeigt. Aber geht es hier allein um politisches Sachwissen? Eher nicht, da der Autor ja vor allem moniert, dass die Anzahl nicht bedeutsam abgegebener Stimmen durch Wahlpflicht massiv steigen würde. Nicht bedeutsam in dem Sinne, dass sie nicht den wohlinformierten Präferenzen des Individuums entsprechen und dass sie in höherem Maße für extreme Parteien stimmen würden. Das heißt, wären die durch Wahlpflicht neu erschlossenen Wählerschichten wohlinformiert bezüglich ihrer Präferenzen, würden sie im Aggregat anders wählen. Dieses Argument ist paternalistisch und zeigt, dass die Literatur zum correct voting, insbesondere Lau und Redlawsk, nicht rezipiert wurde (z.B. Lau & Redlawsk, 2006). Hier werden correct votes operationalisiert als Stimmen, die z.B. in Einklang mit der ideologischen Sichtweise von Wählerinnen und Wählern abgegeben werden. Correct votes sind aber sicherlich keine Stimmen, die in irgendeiner Weise Politikpositionen entsprechen, die von (den gebildeten) Teilen des Elektorats als richtig erkannt wurden und die man im Rahmen des „Wahlführerscheinerwerbs“ beigebracht bekommt. Es mag zwar sein, dass politisch versierte Menschen im Schnitt (!) besser in der Lage sind Verbindungen zwischen ihren Präferenzen und politischen Positionen herzustellen, aber wie um alles in der Welt sollen staatliche Test- und Bildungsmaßnahmen diese Fähigkeit massenhaft und mit elektoralen Konsequenzen abprüfen?

Außerdem bedeutet Demokratie ja gerade nicht, dass ich als Außenstehender bewerten kann, was Wähler X eigentlich wählen sollte, wäre er kompetent, sondern, dass jeder in der Lage ist seine eigenen Interessen zu formulieren. Robert Dahl bezeichnet das als strong principle of equality, und betrachtet es als konstituierendes Merkmal von Demokratie (Dahl, 1991). Natürlich kann man von Merkmalen wie der sozialen Lage eines Individuums darauf schließen, dass es materiell rational wäre für eine Partei zu stimmen, die Umverteilung verspricht, wenn es arm ist. Dies wäre aber ein eklatanter Reduktionismus, da Präferenzen komplexer strukturiert und durch objektive Merkmale nur unzureichend auf sie geschlossen werden kann. Vielleicht hasst das arme Individuum Umverteilung. Damit wäre aus der Sicht dieses Menschen die abgegebene Stimme für eine libertäre Partei korrekt.

Die Frage, welche politischen Kompetenzen also ein „Wahlführerschein“ messen soll, ist fundamental für die Argumentation des Autors und seine Ideen wie ein Mehr an politischer Gleichheit erreicht werden kann. Sie wird von ihm aber nicht überzeugend beantwortet. Meines Erachtens ist sie überhaupt nicht beantwortbar. Wenn ich aber nicht weiß, was ich messen möchte, sind die Probleme natürlich viel grundlegender als in einer Situation, in der ich nicht weiß wie ich ein definiertes latentes Konstrukt am besten messbar mache.

 

Fazit

Der Beitrag von Gordian Ezazi greift eine aktuelle Debatte um Wahlpflicht und politische Gleichheit auf, die nicht nur in der Politikwissenschaft geführt wird, sondern auch in den Medien immer wieder aufflammt, und die diese Aufmerksamkeit sicher auch verdient hat. Wahlpflicht ist kein Allheilmittel, das politische Gleichheit quasi per Konstruktion erzeugt. Ihre Einführung muss in jedem Einzelfall genau geprüft werden, da es von kontextuellen Einflüssen abhängt, ob sie tatsächlich die intendierte größere politische Gleichheit zur Folge hat. Es spricht einiges dafür, dass Wahlpflicht das Potential hat zu besserer politischer Repräsentation beizutragen, indem sie z.B. das Parteiensystem verändert.

Man kann bezüglich der Einführung von Wahlpflicht verschiedener Meinung sein, dem Statement des Autors im Fazit seines Beitrags „Eine Wahlteilnahmepflicht kann der politischen Gleichheit nur dann nachhaltig förderlich sein, wenn diese durch einen […] „Wahlführerschein“ ergänzt würde“ möchte ich aber vehement widersprechen. Das letzte, was wir in Demokratien brauchen sind „Wahlführerscheine“ oder wie auch immer zu bezeichnende Eignungsfeststellungen, die den Akt des Wählens komplizierter machen und zur Teilnahme am politischen Leben qualifizieren. Vielmehr sollten nicht zuletzt die Parteien sich fragen, warum die Anzahl gewohnheitsmäßiger Nichtwähler so hoch ist.

 

 

 

Verwendete Quellen

Dahl, R. A. (1991). Democracy and its Critics: Yale University Press.

Filer, J. E., Kenny, L. W., & Morton, R. B. (1991). Voting laws, educational policies, and minority turnout. Journal of Law and Economics, 371-393.

Gallego, A. (2014). Unequal Participation Worldwide. Cambridge: Cambridge University Press.

Jensen, C. B., & Spoon, J.-J. (2011). Compelled without direction: Compulsory voting and party system spreading. Electoral Studies, 30(4), 700-711.

Lau, R. R., & Redlawsk, D. P. (2006). How voters decide: Information processing in election campaigns: Cambridge University Press.

Pardos-Prado, S., Galais, C., & Muñoz, J. (2014). The dark side of proportionality: Conditional effects of proportional features on turnout. Electoral Studies, 35, 253-264.

Plutzer, E. (2002). Becoming a Habitual Voter: Inertia, Resources, and Growth in Young Adulthood. American Political Science Review, 96(1), 41-56.

Tolbert, C. J., & Smith, D. A. (2005). The educative effects of ballot initiatives on voter turnout. American Politics Research, 33(2), 283-309.

 

 

Veröffentlicht unter Allgemein | 2 Kommentare

Mehrfache Parteianhänger und ihre Bedeutung für die Wahlforschung

von Sabrina Mayer

Welche Gründe für die Wahlentscheidung eines Bürgers ausschlaggebend sind, ist eine der zentralen Fragen der Wahlforschung.

Dabei ist seit den 1950er Jahren bekannt, dass viele Bürger eine Parteiidentifikation, eine dauerhafte, psychologische Bindung an eine politische Partei aufweisen. Diese Bürger geben über längere Zeit an, einer Partei „nahe“ zu stehen und sich als Anhänger einer Partei zu fühlen. In Deutschland wird den Wählerinnen und Wählern dabei die Frage gestellt:

Viele Leute in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen? Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu?“

Nachdem in den 1960er Jahren in Deutschland noch knapp 80 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung an eine Partei gebunden waren, hat sich dieser Wert heute auf etwas zwei Drittel reduziert. In den neuen Bundesländern liegt er dabei knapp 8-10 Prozentpunkte niedriger.

Diese Identifikation mit einer Partei kann das politische Verhalten entscheidend beeinflussen: Anhänger einer Partei wählen diese wesentlich häufiger als Nicht-Anhänger. Sie entscheiden sich zudem früher als Nicht-Anhänger, wie sie bei einer Wahl stimmen werden,  sind sich in dieser Entscheidung sicherer und wählen seltener mit Erst- und Zweistimme unterschiedliche Parteien. Für die Wahlentscheidung selbst spielt aber nicht nur die Parteiidentifikation eine Rolle, sondern auch kurzfristige Faktoren können die Wahl beeinflussen: So ist es für die Wähler auch wichtig, welche Partei in ihren Augen geeignet ist, die wichtigsten Probleme in Deutschland zu lösen und wie sie die Kandidaten der Parteien einschätzen.

Schlussendlich ist die Parteiidentifikation aber der stärkste Grund, eine Partei zu wählen: Bei der letzten Wahl wählten zwischen 60 und 80 Prozent der Anhänger auch die Partei, mit der sie sich identifizieren. Die Parteiidentifikation ist also eine wichtige Erklärungsgröße in der Politikwissenschaft.

Es ist denkbar, dass sich Wähler nicht nur mit einer, sondern mit mehreren Parteien identifizieren. So kann ein Wähler nicht nur der SPD, sondern auch den GRÜNEN nahe steht. Aus der Forschung zu mehrfachen Bindungen ist auch bekannt, dass mehrfache Bindungen mit größeren inhaltlichen Überschneidungen einfacher und dauerhafter sind. Eine mehrfache Bindung an SPD und GRÜNE sollte daher für Wähler einfacher aufrecht zu erhalten sein, da sich die Parteien in vielen Punkten inhaltlich ähneln. Eine gleichzeitige Bindung an FDP und GRÜNE ist hingegen schwieriger, da die inhaltlichen Überschneidungen wesentlich geringer sind. Eine mehrfache Bindung sollte dazu führen, dass die Wahlentscheidung später, weniger sicher erfolgt und häufiger Erst- und Zweitstimme verschiedenen Parteien gegeben werden.

Mehrfache Partei-Bindungen (MPI) konnten bis jetzt für Deutschland kaum untersucht werden, da die Frage, welcher Partei man „zuneigt“, nur eine Parteibindung misst.

In einer Studie zur Bundestagswahl 2013 wurden jedoch Fragen für die Parteiidentifikation getestet, die die Messung mehrfacher Bindungen möglich machen[i]. Insgesamt gibt es nun fünf neue Varianten, solche Bindungen zu messen. Eine einfache Möglichkeit besteht darin, direkt nach der Frage, welcher Partei man zuneigt, noch eine zweite Frage zu stellen „Gibt es eine weitere Partei, der Sie zuneigen?“, mit den Antwortoptionen von 1 „stimme überhaupt nicht zu“ über 4 „teils/teils“ bis 7 „stimme voll und ganz zu“.[ii] Eine andere darin, direkt für die größeren Parteien (CDU, SPD, GRÜNE, FDP, LINKE) zu fragen, ob man sich  mit dieser Partei identifiziert. Da die erste Variante oft kritisiert wird[iii], soll die zweite Variante genutzt werden.[iv]

Von den knapp 1000 Befragten weisen knapp 31,4 Prozent überhaupt keine Parteibindung auf.

Etwa vierzig Prozent der Befragten identifiziert sich nur mit einer Partei, die restlichen 29,1 Prozent mit zwei oder mehreren Parteien.

Wie verteilen sich diese Bindungen nun auf die Parteien? Kommen Bindungen innerhalb politischer Lager, wie zwischen der SPD und den GRÜNEN tatsächlich häufiger vor?

Tatsächlich sind die meisten mehrfachen Bindungen innerhalb politischer Lager zu finden, als zwischen diesen Lagern. Von den doppelten Anhängern in der Befragung weisen SPD-GRÜNE den höchsten Anteil auf (36,7), gefolgt von CDU-FDP (14,9) und GRÜNE-LINKE (14,9).

Anzahl Prozent aller doppelten Anhänger
CDU-FDP 33 14,93
SPD-GRÜNE 81 36,65
SPD-LINKE 24 10,86
GRÜNE-LINKE 33 14,93
CDU-SPD 19 8,60
CDU-GRÜNE 13 5,88
CDU-LINKE 10 4,52
SPD-FDP 4 1,81
FDP-GRÜNE 4 1,81
Total 221

 

Dabei sind mehrfache Bindungen mit der LINKE (SPD-LINKE und GRÜNE-LINKE) bei Befragten aus den neuen Bundesländern wesentlich wahrscheinlicher (10,4 Prozent der ostdeutschen, 4,6 Prozent der westdeutschen Befragten weisen eine solche doppelte Bindung auf).

Eine mehrfache Bindung wirkt sich auch auf das Wahlverhalten aus. Im Vergleich zu einzelnen Anhängern wählen mehrfache Anhänger genau so häufig wie Nicht-Anhänger mit Erst- und Zweitstimme unterschiedliche Parteien. Dieses Stimmensplitting wird von mehrfachen Anhängern vielleicht als Möglichkeit aufgefasst, ihre unterschiedlichen Bindungen bei der Wahl zu berücksichtigen. Dieser Zusammenhang ist dabei unabhängig von der Bildung eines Befragten, auch mehrfache Anhänger mit Abitur splitten häufiger ihre Stimmen, als einzelne Anhänger.   Die Wahlentscheidung fällt bei mehrfachen Parteianhängern später als bei einzelnen Anhängern. Knapp ein Drittel der mehrfachen Anhänger gibt an, sich erst wenige Woche vor der Wahl entschieden zu haben, während der Anteil bei den einzelnen Anhängern bei knapp einem Viertel liegt. Allerdings entscheiden sich Nicht-Anhänger immer noch später als mehrfache Anhänger. Da mehrfache Anhänger sich mehreren Parteien verbunden fühlen, jedoch mit der Zweitstimme nur eine Partei wählen können, erscheint auch das letzte Ergebnis logisch: Mehrfache Anhänger treffen zudem ihre Wahlentscheidung mit der höchsten Unsicherheit, knapp zwei Drittel geben an, in den Wochen vor der Bundestagswahl überlegt zu haben, auch eine andere Partei zu wählen.

 

grafik_blog_mayer_1

Stimmensplitting: Erst- und Zweitstimme wurde für unterschiedliche Parteien abgegeben

 

Spätentscheider: Die Befragten wurden gefragt, wann sie sich entschieden haben, welche Partei sie mit der  Zweitstimme wählen werden, die Antwortkategorien „Ich habe mich in den letzten Wochen /Tagen/am Wahltag entscheiden“ würden als Spätentscheider zusammengefasst

Unsicherheit: Alle Befragten, die die Frage „Haben Sie im Vorfeld der letzten Bundestagswahl einmal überlegt, Ihre Zweitstimme einer anderen Partei zu geben?“ mit Ja beantwortet haben.

Wie zu sehen war, verhalten sich mehrfache Anhänger oft anders als einzelne Anhänger. In bisherigen Studien konnten diese beiden Gruppen jedoch nicht klar getrennt werden, was die Untersuchung der Effekte der Parteibindung sicherlich verzerrt. Weitere Untersuchungen, gerade auch zu Anhängern zwischen politischen Lagern, sind geplant.

 

Quellen:

Arzheimer, Kai. 2012. Mikrodeterminanten des Wahlverhaltens: Parteiidentifikation. In Wählerverhalten in der Demokratie. Eine Einführung, Hrsg. Oscar W. Gabriel, und Bettina Westle, 223–246. Baden-Baden: Nomos.

Belknap, George, und Angus Campbell. 1951. Political Party Identification and Attitudes Toward Foreign Policy. Public Opinion Quarterly 15: 601–623. doi: 10.1086/266348.

Campbell, Angus, Philip E. Converse, Warren E. Miller, und Donald E. Stokes. 1960. The American voter. Chicago: Univ. of Chicago Pr.

Postmes, Tom, S. Alexander Haslam, und Lise Jans. 2013. A single-item measure of social identification: Reliability, validity, and utility. British Journal of Social Psychology 52: 597–617. doi: 10.1111/bjso.12006.

Reysen, Stephen, Iva Katzarska-Miller, Sundé M. Nesbit, und Lindsey Pierce. 2013. Further validation of a single-item measure of social identification. European Journal of Social Psychology: 463–470. doi: 10.1002/ejsp.1973.

Roccas, Sonia, und Marilynn B. Brewer. 2002. Social Identity Complexity. Personality and Social Psychology Review 6: 88–106.

Schmitt, Hermann. 2009. Multiple Party Identifications. In The Comparative Study of Electoral Systems., Hrsg. Hans-Dieter Klingemann, 137–157. Oxford: Oxford University Press.

Schoen, Harald, und Cornelia Weins. 2005. Der sozialpsychologische Ansatz zur Erklärung von Wahlverhalten. In Handbuch Wahlforschung, Hrsg. Jürgen W. Falter, und Harald Schoen, 187–242. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 


[i] Die Befragung wurde mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung durchgeführt, insgesamt wurden vom 22. November bis 2. Dezember 2013 über ein Online-Access-Panel knapp 1000 Personen online befragt. Da nur nach Alter und Bundesland quotiert wurde und die Befragung in einem Online-Access-Panel stattfand, ist die Befragung natürlich nicht repräsentativ für Deutschland.

[ii] Adaption des Single Item Social identification measure von Postmes et al. (2013) und Reysen et al. (2013).

[iii] Eine solche Frageformulierung wird oftmals kritisiert, da sie durch diese sehr direkte Formulierung leicht dazu führt, dass die Anteile mehrfacher Anhänger zu hoch liegen (Schmitt 2009). Allerdings unterscheiden sich die Anteile für diese Variante kaum von den anderen Varianten, der Anteil der mehrfachen Parteianhänger bei dieser Frageformulierung liegt etwa 2,5 Prozentpunkte höher.

[iv] Jeder, der mit einem Wert über 4 geantwortet hat, wird als Anhänger der Partei gezählt.

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Die öffentliche Meinung zu Reformen des Arbeitsmarktes

Von Christopher Buss

Reformen des Arbeitsmarktes stehen seit Jahren weit oben auf der Agenda von nationalen Regierungen und der EU. Ein wichtiger Politiktrend in diesem Bereich ist die Aktivierungspolitik für Arbeitslose. Sozialleistungen für Arbeitslose werden vermehrt an das Verhalten der Arbeitslosen geknüpft. Ihr Anspruch auf Leistungen wird gekürzt wenn Arbeitslose nicht aktiv nach Arbeit suchen oder ein angemessenes Arbeitsangebot ablehnen. Diese Bedingungen wurden in Deutschland mit der Hartz Reform verstärkt, aber auch fast alle anderen europäischen Länder haben Sanktionsregelungen ausgebaut.

Das Forschungsprojekt “Unterstützung von Wohlfahrtsstaatsreformen durch der Bevölkerung”  untersucht die Meinungen der Bevölkerung zu solchen Politikreformen. Bisherige Studien haben gezeigt, dass die öffentliche Meinung einen Einfluss auf die weitere Entwicklung von Politik haben kann. Daher ist es sowohl für Wissenschaftler als auch Politiker wichtig, die öffentliche Meinung zu Arbeitsmarktreformen zu kennen.

Insgesamt ist die öffentliche Unterstützung für Arbeitslose deutlich geringer als für universelle staatliche Leistungen wie das Gesundheits- oder Rentensystem. Dieses Ergebnis kann teilweise durch das individuelle Eigeninteresse erklärt werden. Nur eine Minderheit der Bevölkerung erwartet, von der Arbeitslosenversicherung zu profitieren. Dennoch ist die Mehrheit der Bevölkerung dafür, dass der Staat einen angemessenen Lebensstandard für Arbeitslose sicherstellen sollte. Die meisten Befragten knüpfen diese Leistungen an Bedingungen wie die aktive Suche nach Arbeit. Stärkere Sanktionen werden von der Bevölkerung insbesondere für junge, kinderlose Arbeitslose befürwortet.

Eine wichtige Frage ist, wie die Bevölkerung in Europa auf die neu eingeführten Reformen reagiert. Wenn sie die neu eingeführten Reformen unterstützt, sind in der Zukunft noch schärfere Sanktionen und Bedingungen für Arbeitslose zu erwarten. Darstellung 1 zeigt, wie sich die öffentliche Meinung zur Aktivierungspolitik in den vergangenen 20 Jahren in verschiedenen Teilen Europas verändert hat. Die Umfrageteilnehmer wurden gefragt, ob Arbeitslose jeden Job annehmen müssten, um weiterhin Arbeitslosenleistungen zu erhalten.

 

RegimeAttitudes_Buss_Blog

Darstellung 1: Durchschnittliche Unterstützung für Aktivierungspolitik nach europäischer Region, 1990-2008.

Quelle: Daten aus dem European Value Survey für 27 Länder, 1990, 1999, 2008. Frage: Sollten Arbeitslose das Recht haben jeden Job abzulehnen (0) oder die Verpflichtung haben jeden Job anzunehmen (10), wenn sie Arbeitslosengeld erhalten.

 

Insgesamt zeigt sich, dass sich die Einstellungen der Bevölkerung in vielen Teilen stark verändert haben. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind deutlich kleiner geworden. Die Bevölkerung in Osteuropa sowie Großbritannien befürwortet Bedingungen für Leistungen heute stärker als vor einigen Jahren. Dagegen ist die skandinavische Bevölkerung heute skeptischer gegenüber diesen Bedingungen. Ein möglicher Grund hierfür ist, dass in großzügigen skandinavischen Wohlfahrtsstaaten Sanktionsmechanismen als problematisch angesehen werden. Sie widersprechen den wichtigen Prinzipien einer universellen und bedingungslosen Fürsorge, auf denen diese Wohlfahrtsstaaten basieren (Kananen, 2012). Im Gegensatz sind Leistungen in Großbritannien eher an eine Bedürftigkeitsprüfung gekoppelt. Daher könnten neue Bedingungen für Arbeitslose dort eher auf Zustimmung stoßen. In  Deutschland sowie in den meisten anderen westeuropäischen Ländern sind die Einstellungen zur Aktivierung dagegen relativ stabil.

Diese unterschiedlichen Verläufe der öffentlichen Meinung zeigen, dass Reformvorhaben nicht immer auf den Widerstand der Bevölkerung treffen müssen. Sie zeigen aber auch, dass die öffentliche Meinung sehr unterschiedlich auf Politikveränderungen reagieren kann. In weitere Analysen werden wir untersuchen, welche Bevölkerungsgruppen besonders für eine Verschärfung der Aktivierungspolitik plädieren und wie spezifische Reformvorhaben bewertet werden.

Quellen

Brooks, C. and Manza, J. (2006). Social Policy Responsiveness in Developed Democracies. American Sociological Review, 71, 474–494.

Houtman, D. (1997). Welfare State, Unemployment, and Social Justice: Judgments on the Rights and Obligations of the Unemployed. Social Justice Research, 10, 267–288.

Kananen, J. (2012). Nordic paths from welfare to workfare: Danish, Swedish and Finnish labour market reforms in comparison. Local Economy, 27, 558–576.

Knotz, C. M. (2012). Measuring the ’new balance of rights and responsibilities’ in labor market policy: A quantitative overview of activation strategies in 20 OECD countries. ZeS-Arbeitspapier 06/2012: Zentrum für Sozialpolitik.

Larsen, C. A. (2008). The political logic of labour market reforms and popular images of target groups. Journal of European Social Policy, 18, 50–63.

van Oorschot, W. (2006). Making the difference in social Europe: deservingness perceptions among citizens of European welfare states. Journal of European Social Policy, 16, 23–42.

Weishaupt, J. T. (2010). From the manpower revolution to the activation paradigm. Explaining institutional continuity and change in an integrating Europe. Amsterdam: Amsterdam University Press.

References

Kananen, J. (2012). Nordic paths from welfare to workfare: Danish, Swedish and Finnish labour market reforms in comparison. Local Economy, 27, 558–576.

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Die Zusammensetzung der israelischen Knesset nach den Wahlen 2015

Von Regina Weber

Am 17. März 2015 fanden die Wahlen zur 20. Knesset, dem israelischen Parlament statt. Die bestehende Koalition des Premierminister Netanyahu hat im Dezember nach knapp zwei Jahren  das Parlament aufgelöst und Neuwahlen nötig gemacht. Das neue Parlament hat vielen neue Gesichter: 40 der 120 Knessetabgeordneten sind zum ersten Mal dabei. Aber in welchen Parteien finden sich die neuen Mitglieder? Konnten sie sich in den alten Parteien durchsetzen oder haben Fusionen, Neugründung und Aufsplitterungen zu den neuen Gesichtern geführt?  

 

Der Wahlkampf war teilweise hart und ist auch im Ausland wahrgenommen worden. Premierminister Netanyahu hat sich auch bei vielen proisraelischen Gruppen unbeliebt gemacht und dennoch erneut die Wahlen gewonnen. Im Vorfeld sah es jedoch ganz anders aus. Neue Bündnisse hatten sich gegründet, alte wurden aufgelöst: Mit der Fusion von Tzipi Livnis Partei «HaTnua» und der Arbeiterpartei «HaAvodah» zur Liste «Zionistische Lager»  (HaMahane HaZioni) haben die mitte-links Parteien ihre Kräfte versucht zu bündeln. Anders auf der anderen Seite: Die Partei Netanyahus, der «Likud» und die Partei des ehemaligen Außenministers Lieberman «Israel Beteinu» lösten ihre gemeinsame Liste auf und traten getrennt an. Gleichzeitig hat sich einiges an den Rändern bewegt: Die ultraorthodoxen Parteien haben sich teilweise aufgesplittert, zusätzlich hat sich hier eine Frauenpartei gegründet. Die drei arabischen Parteien sind zusammen mit der binationalen Kommunistischen Partei «Hadash» auf einer gemeinsamen Liste angetreten, um nicht gesammelt der erhöhten Sperrklausel von nun 3,25% zum Opfer zu fallen. Einige Bewegung war also auf Seiten des Angebots zu finden und so manche Kommentatoren hielten einen Sieg eines mitte-links Bündnisses nach den vergangenen Oppositionsjahren wieder für möglich. Daraus wurde nichts, Netanyahus «Likud» wurde wieder stärkste Partei und konnte Anfang Mai 2015 nach langwierigen Verhandlungen eine rechte Koalition zusammenzimmern, die mit 61 von 120 Sitzen denkbar knapp ist.

 

Von den 25 Listen, die zur Wahl antraten sind 10 Listen in der 20. Knesset vertreten, dies ist die geringste Zahl seit der Staatsgründung. Die Wahl hat zu einem großen Austausch an Abgeordneten geführt: Ein Drittel der Abgeordneten sitzt zum ersten Mal in der Knesset.

 

Die Abgeordneten sind zwischen 30 und 72 Jahre alt, das durchschnittliche Alter liegt bei 53 Jahren, die Hälfte der Abgeordneten ist jünger als 55 Jahre. 29 Abgeordnete sind weiblich, mit diesem Anteil von 24% liegt Israel international im oberen Mittelfeld. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Parteien sehr stark hinsichtlich ihres Frauenanteils: In den ultraorthodoxen Parteien «Shas» und «United Torah Judaism» sind grundsätzlich keine Frauen unter den Abgeordneten. Der Frauenanteil der anderen Fraktionen liegt zwischen 13% (HaBayit HaYehudi) und 60% (Meretz). Der klassische Familienstand der Parlamentarier ist die Ehe. 82% sind verheiratet, weitere 6% verwitwet. Nur 7% geben an, Single zu sein. Hier gibt es kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien. Alle Zusammenhänge sind hier nicht signifikant. Anders sieht es aus bei den Unterschieden nach Geschlecht: Frauen sind fast doppelt so häufig Single wie ihre Kollegen (allerdings verzerrt die relative Häufigkeitsverteilung aufgrund der jeweils einstelligen Fallzahlen den Eindruck).

 

Wie unterscheiden sich aber nun die neugewählten von den «alten» Abgeordneten?

 

Die Neumitglieder sind signifikant jünger als die Alten. Im Durchschnitt 50 Jahre alt sind sie und damit 4 Jahre jünger als diejenigen, die bereits mindestens einmal wiedergewählt wurden. Hinsichtlich des Alters gibt es keine signifikanten Geschlechterunterschiede, Männer und Frauen sind bei den Newcomern als auch bei den «Alten» gleichermaßen vertreten.

 

Aus welchen Parteien bzw. Wahllisten kommen die neuen Mitglieder? Dahinter steckt die Frage, ob neue Listen einen personellen Wechsel im Parlament begünstigen oder ob sich neue Parlamentarier/innen in den alten Listen durchsetzen konnten (Es gibt keine Wahlkreise, sondern nur eine einzige Wahlliste der Kandidaten im gesamten Land). Die absolut meisten Erstgewählten (11 von 30) sind auf der Liste des Likud in die Knesset eingezogen. Die Liste „Zionistisches Lager“ und die neugegründete Liste «Kulanu» stehen an zweiter Stelle gleichauf (9 von 24 bzw. 9 von 10). Bei den beiden größten Listen, beides Listen etablierter Parteien sind damit 1/3 der gewählten Abgeordneten zum ersten Mal dabei. Bei den beiden ultraorthodoxen Parteien «Shas» und «United Torah Judaism» sowie der linksliberalen Partei «Meretz» sind keine Parlamentarier zum ersten Mal dabei (Abb. 1). Damit kann man sagen, dass die beiden großen Parteien im rechten und linken Lager eine gewisse Durchlässigkeit für neue Abgeordnete haben, während gerade die kleineren Parteien tendenziell eher auf bereits etablierte Abgeordnete zurück greifen.

 

Abb. 1: Alte und neue Knessetmitglieder nach Listen.

Abb. 1: Alte und neue Knessetmitglieder nach Listen.

 

Nun sollen die neuen Listen mit den Listen verglichen werden, die bereits einmal angetreten sind. Neben der neuen Liste «Kulanu» gibt es zwei weitere Listen, die in der aktuellen Form zum ersten Mal antreten; die Liste «Zionistisches Lager» und «Joint Arab List» sind zu der Knessetwahl 2015 zum ersten Mal angetreten, allerdings als Zusammenschlüssen von länger bestehenden Parteien. In beiden Fällen haben sie mit dem neuen Zusammenschluss jedoch auch ein verändertes politisches Profil nach außen vertreten, dass die Gemeinsamkeiten der zuvor getrennten Listen betont. Insgesamt zeigt sich ein mittlerer positiver  Zusammenhang (Cramer’s V und Phi-Koeffizient = 0.318) zwischen der Anzahl an neugewählten Abgeordneten und der Zugehörigkeit zu einer dieser drei Listen. Man kann also davon ausgehen, dass diese drei neuen Listen es eher als die bestehenden geschafft haben, neue Parlamentarier auf aussichtsreiche Listenplätze zu setzen.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neuen Abgeordneten sich von den «alten» hinsichtlich der demographischen Zusammensetzung lediglich im Alter unterscheiden. Die neugewählten sind etwas jünger, jedoch mit durchschnittlich 50 Jahren nach wie vor nicht im eigentlichen Sinne als junge Menschen zu bezeichnen. Die Neugründung von Listen scheint jedoch einen positiven Effekt auf die Durchlässigkeit der Wahllisten für neue Abgeordnete zu haben. Damit scheinen neue Listen eine Möglichkeit zu sein, nicht nur andere Wählergruppen zu mobilisieren sondern auch andere Personen in die Legislative zu bringen.

 

 

 

Literatur

 

The 2015 Israeli Elections: Initial Analysis, Dr. Ofer Kenig, Israel Democracy Institute, online: http://en.idi.org.il/media/3987336/IDI-2015-Elections-Aftermath-21.pdf

Quelle für die Daten: Webseiten der Knesset, https://www.knesset.gov.il/mk/eng/mkindex_current_eng.asp?view=0

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar

Neue Ungleichheit beim Renteneintritt

von Prof. Dirk Hofäcker, Stefanie Köng und Moritz Heß

Am 1. Juli 2014 verabschiedete die Regierung das Gesetzt zur abschlagsfreien Rente mit 63. Diese ermöglicht es Arbeitnehmern, welche 45 Jahre Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt haben, ohne Abzüge mit 63 Jahren (ab 2015 steigt die Altersgrenze jedes Jahr um 2 Monate bis sie bei 65 ist) in Rente zu gehen. Einerseits bietet diese Regelung älteren Arbeitnehmern mit langer Erwerbslaufbahn die Möglichkeit, den Arbeitsmarkt früher zu verlassen, was als Beitrag zu einer gerechteren Gestaltung des Rentenübergangs angesehen werden kann.

Andererseits wird die Rente mit 63 vielfach als ein Schritt zurück in Richtung einer Politik der Frühverrentung gesehen, welche in Deutschland die Renten- und Arbeitsmarkpolitik bis Ende der 1990er Jahre bestimmte. Älteren Arbeitnehmern wurden in dieser Zeit finanzielle Anreize geboten, früh in den Ruhestand zu gehen um dadurch Einstiegsmöglichkeiten für jüngere Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Ab Mitte der 1990er Jahre verfestigte sich die Wahrnehmung, dass diese Politik der Frühverrentung die monetären Möglichkeiten der gesetzlichen Rentenversicherung überstieg. Verschiedene Reformen – unter anderem die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalter und die Schließung attraktiver Frühverrentungspfade – trugen ab der Jahrhundertwende zu einem schrittweisen Anstieg der Beschäftigungsrate ältere Arbeitnehmer bei, der gegenwärtig weiterhin anhält.

Abbildung 1: Beschäftigungsrate von Männern und Frauen (55-65 Jahre) in Deutschland

Hofäcker et al. 1Diese insgesamt positive Entwicklung der Erwerbstätigkeit älterer Arbeitnehmer geht jedoch offenbar einher mit der Zunahme von Ungleichheiten beim Übergang in die Rente (siehe Hofäcker & Naumann, 2014 für Deutschland bzw. Hofäcker et al, 2015 für Europa). Vor Einführung der jüngsten Renten- und Arbeitsmarktreformen nutzten vor allem niedrigqualifizierte Arbeiter mit geringem Einkommen die verschiedenen Frühverrentungsmöglichkeiten, die ihnen meist einen finanziell ausreichenden Ausgleich für den frühzeitigen Arbeitsmarktausstieg anboten. Heute hingegen verspürt diese Gruppe angesichts des Abbaus derartiger finanziell attraktiver Frühverrentungsmöglichkeiten und einer gleichzeitigen Erhöhung des „Standard-Ruhestandsalters“ verstärkt den finanziellen Druck, länger im Erwerbsleben zu verbleiben, um Ansprüche auf eine ausreichende Rente zu erwerben. Ihre durch finanzielle Notwendigkeiten meist „erzwungene“ Weiterarbeit steht dabei in Kontrast zu dem Ruhestandsverhalten hochqualifizierter Arbeitnehmer, die zwar ebenfalls eher später in den Ruhestand gehen, hierfür jedoch deutlich häufiger auf  eine hohe Arbeitszufriedenheit bzw. Identifikation mit ihrem Beruf verweisen (siehe Abbildung 2).

Das Projekt „Determinanten der Ruhestandsentscheidung in Europa und den USA: Ein internationaler Vergleich institutioneller, betrieblicher und individueller Faktoren “ untersucht die Veränderungen im Übergang in den Ruhestand aus einer international vergleichenden Perspektive. An dem Projekt beteiligt sind Wissenschaftler aus 11 europäischen Ländern, den USA und Japan. In allen 13 Ländern ist eine, wenn auch unterschiedlich starke, Entwicklung in Richtung späteren Renteneintritts zu beobachten. Mit neusten Daten des AdHoc Moduls „Transition from work into retirement“ der Europäischen Arbeitskräfteerhebung (European Labour Force Survey) wird überprüft, ob der Politikwechsel von der Frühverrentung zur längerem Erwerbstätigkeit in europäischen Ländern in gleichem Maße zu einer steigenden sozialen Ungleichheit beim Übergang in die Renten beiträgt. Erste Analyse verweisen hier auf große Unterschiede zwischen den Ländern, sowohl hinsichtlich des Alters beim Erwerbsausstieg als auch hinsichtlich der Gründe für Weiterarbeit und Ruhestand.

Abbildung 2: Hauptgrund für späteren Renteneintritt in Deutschland

 

Hofäcker et al. 2

 

Quellen:

 

Hofäcker, Dirk & Naumann, Elias (2014): The emerging trend of work beyond retirement age in Germany. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, AdvanceAccess

 

Hofäcker, Dirk; Heß, Moritz & Naumann, Elias (2015): Changing retirement transitions in times of paradigmatic political change: Towards growing inequalities? In: Torp, Cornelius: Challenges of Aging: Retirement, Pensions, and Intergenerational Justice. Palgrave Macmillan [In Press]

 

König, Stefanie & Heß, Moritz: Overview on Institutional, Workplace, and Individual Determinants of Retirement. In: Hofäcker, Dirk; Heß, Moritz & König, Stefanie: Delaying Retirement: Progress and Challenges of Active Ageing in Europe, the United States and Japan [Accepted by Palgrave Macmillan for publication as edited volume]

 

Bemerkungen:

 

Einen detaillierteren Überblick aus international vergleichender Perspektive liefert der Sammelband „Delaying Retirement: Progress and Challenges of Active Ageing in Europe, the United States and Japan” (zur Publikation angenommen bei Palgrave Macmillan)

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

19,4 % Kinderarmut

19,4 % aller Kinder in Deutschland lebten 2013 in armen Haushalten. Sie lebten in Haushalten mit weniger als 60 % des mittleren Nettoeinkommens.

Jedes 5. Kind wächst also in relativer Armut auf.

Kinderarmut ist die schlimmste Form der Armut. Die behindert nicht nur die soziale und ökonomische Teilhabe an der Gesellschaft in der Jugend, sondern hat weitreichende negative Konsequenzen für die Zukunft.

Armut in der Kindheit hat gesundheitliche Konsequenzen, ökonomische Konsequenzen, soziale Konsequenzen und politische Konsequenzen.

Eine Verringerung der Kinderarmut hat weitreichende positive Effekte auf die Gesellschaft (weniger Arbeitslosigkeit, mehr Steuereinnahmen etc).

Warum ist das Thema nicht oben auf in der politischen Diskussion?

 

Referenzen:

Daten von Eurostat 2015 aus dem Jahr 2013

neuer Bericht der Bertelsmannstiftung

Veröffentlicht unter politische Zahlen im Fokus | Verschlagwortet mit , | Schreib einen Kommentar

650

von Robin Arens

In genau 650 Wahlkreise ist das Vereinigte Königreich aufgeteilt. Pro Wahlkreis wird der Kandidat in das Unterhaus gewählt, der die meisten Stimmen gewonnen hat. Daher setzt sich das britische Parlament auch aus 650 Abgeordneten zusammen.
Gegen 23.00 Uhr (MESZ) am kommenden Donnerstag (07.05.2015) werden wir wissen, welche 650 Namen zu den 650 Abgeordnetenplätzen gehören.

Wie lange diese Zahl noch im Fokus des Wahlabends stehen wird, ist indes unsicher. Da das aktuelle Wahlrecht immer stärker in die Kritik gerät, gibt es schon seit mehreren Jahren die Überlegung das Wahlsysten zu verändern.

 

Weiterführende Links zur Thematik:

http://www.bbc.com/news/election/2015

http://www.theguardian.com/politics/general-election-2015

http://blogs.lse.ac.uk/generalelection/

http://fivethirtyeight.com/uk-election-2015/

http://electionsetc.com/

Veröffentlicht unter politische Zahlen im Fokus | Verschlagwortet mit | Schreib einen Kommentar

Alles neu macht der Mai? – Weniger als 50 Tage vor der Parlamentswahl in Großbritannien

Von Matthias Dilling

Zeitenwende oder Ausreißer? Dies war die Frage, die nach der Parlamentswahl 2010 die Beobachter britischer Politik entzweite. Gerade hatte mit David Camerons konservativ-liberalem Kabinett die erste Koalitionsregierung seit Winston Churchills Kriegsregierung der nationalen Einheit die Arbeit aufgenommen. Fünf Jahre später, nunmehr weniger als 50 Tage vor der Parlamentswahl 2015, scheint eines klar: Eine Rückkehr zur Ein-Parteien-Regierung wird es in diesem Jahr nicht geben. Oder vielleicht doch? Denn obwohl die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit eines sogenannten „Hung parliaments“ (eines Parlaments, in dem keine der vertretenen Parteien eine Mehrheit der Sitze innehat) wie unten gezeigt bei 87 Prozent liegt,[1] deutet die Vielfalt an potentiellen Bündnissen auf einen schwierige Regierungsbildungsprozess hin. Am Ende könnten sogar unmittelbare Neuwahlen stehen.

dillinger 1

Dieser Blog-Artikel soll helfen, einen besseren Eindruck dafür zu bekommen, wer nach dem 7. Mai 2015 in 10 Downing Street die Regierungsgeschäfte lenken wird. Dafür wird zunächst auf einige Besonderheiten des britischen Wahlsystems eingegangen, um zu verstehen, warum ein einfacher Blick auf die Umfragen für eine solide Vorhersage nicht hinreichend ist. In einem zweiten Schritt wird auf die Besonderheit Schottlands und der Scottish National Party (SNP) eingegangen, welcher die Rolle des Königsmachers zukommen könnte. Jedoch lassen die wohl knappen Mehrheitsverhältnisse auch andere Bündnisse möglich erscheinen. Aufbauend auf statistische Vorhersagen von Steve Fisher (University of Oxford) und Jonathan Jones wird auf diese im letzten Teil dieses Beitrags eingegangen.

Zunächst muss berücksichtigt werden, dass ausschließlich die parlamentarische Sitzverteilung für die Regierungsbildung entscheidend ist.[2] Demnach hilft uns der alleinige Blick auf Wählerstimmen recht wenig. Betrachtet man die Vorhersagen von Fisher und Jones sowie den Durchschnittswert bisheriger Umfragen in der folgenden Abbildung, haben die Konservativen (34,3 Prozent) einen leichten Vorteil vor Labour (31,6 Prozent), gefolgt von der europafeindlichen und rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP) mit 13 Prozent und dem aktuellen Koalitionspartner Camerons, den Liberal Democrats (LibDem; 9,9 Prozent). 11,2 Prozent würden eine der sonstigen Parteien wählen.

Dillinger 2

Allerdings hat die Übersetzung von Wählerstimmen in Parlamentssitze im britischen Mehrheitswahlrecht schon einige verwunderliche Ergebnisse erbracht. Da nur der Gewinner in einem Wahlkreis gewählt wird und alle übrigen Wählerstimmen für die nachfolgenden Kandidaten verfallen, kann die Zusammensetzung des Parlaments teilweise erheblich vom proportionalen Wahlergebnis abweichen. Beispielsweise gewannen Labour (48,8 Prozent) and die Konservativen (48,0 Prozent) 1951 fast den gleichen Stimmenanteil, wohingegen Labour 20 Parlamentssitze verlor und die Tories 22 gewannen. Noch deutlicher wurde der Effekt des Wahlsystems 1983: Das sozialdemokratisch-liberale Wahlbündnis gewann zwar 25,4 Prozent der Stimmen, erhielt jedoch nur 3,6 Prozent der Sitze.[3] Schauen wir folglich auf die vorhergesagte Sitzverteilung, ergibt sich ein leicht anderes Bild:

Dillinger 3

Dies bestätigt zwar, dass beide großen Parteien die für die Mehrheit der Sitze notwendigen 323 Sitze[4] wohl klar verpassen werden (Conservatives: 284 Sitze; Labour: 278 Sitze), jedoch wird UKIP deutlich weniger Einfluss haben als die Umfragen vermuten lassen. Schätzungen sagen den Rechtspopulisten lediglich drei Sitze voraus. Dagegen gewinnt eine Partei an parlamentarischer Bedeutung, welche das Vereinigte Königreich im Vergangenen Jahr an den Rand des Auseinanderbrechens gebracht hatte – die Scottish National Party (SNP).

Weniger als ein Jahr nach der Niederlage der SNP bei dem Referendum zur schottischen Unabhängigkeit wird die SNP wohl ihren Sitzanteil in Schottland fast vervierfachen (SNP Ergebnis 2010: sechs Sitze). Sie könnte so, mit vorgesagten 41 Sitzen, zum Königsmacher werden – also entweder Labour oder die Konservatives durch Tolerierungsabkommen oder Enthaltungen eine Mehrheit verschaffen. Entgegen häufiger Annahmen, muss dies aber kein Vorteil für Labour sein.

Zwar gab es parlamentarische Deals zwischen der SNP und Labour bereits in den 70er-Jahren und sicherlich steht die SNP Labour in sozioökonomischen Fragen allgemein deutlicher näher als den Tories, jedoch liegt genau darin die große Gefahr für Labour. Schottland war traditionell Labour’s Hochburg. Nun läuft ihr dort aber die SNP, die sich nicht nur als regionalistische, sondern auch sozialdemokratische Partei präsentiert, den Rang ab. Labour braucht aber die schottischen Wahlkreise, um je wieder eine Chance auf eine landesweite Alleinregierung zu haben. Eine gemeinsame Zusammenarbeit in Westminster könnte schottischen Labour-Wählern signalisieren, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Unterschiede zwischen der SNP und Labour nur marginal seien. Dies könnte sie ermutigen, künftig für die Partei zu stimmen, die neben ihren sozial-wirtschaftlichen zusätzlich noch ihre regionalen Interessen vertritt – die SNP. Dies wäre das Ende für den schottischen Regionalverband von Labour und für die Regierungsträume der gesamten Labour-Partei. Labour hat demnach gute Gründe, eine Zusammenarbeit mit der SNP abzulehnen.

Im Gegenzug spekulieren einige Beobachter, dass eine Zusammenarbeit zwischen der SNP und den Konservativen nicht völlig abwegig sei. Sicherlich, die Tories würden einen beträchtlichen Imageverlust riskieren, sollten sie, als Party of the Union, mit den Regionalisten paktieren. Außerdem hat die SNP formal ausgeschlossen, die Konservativen als Koalitionspartner oder durch parlamentarische Unterstützung an der Regierung zu halten. Dies schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass sich die SNP bei bestimmten Abstimmungen im Parlament (z.B. einem Misstrauensvotum gegen ein konservatives Kabinett) enthalten könnte. Dies könnte für die Tories aber schon ausreichen, um eine Mehrheit zu erlangen. Raum für informelle Absprachen und Deals wäre folglich vorhanden. Zudem gibt es Präzedenzfälle, in denen Regionalisten auch mit anderen Parteien als Labour in Westminster zusammenarbeiteten. Zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Phase der Kooperation zwischen der liberalen Regierung und den irischen Nationalisten.[5] So unmöglich eine Tories-SNP-Zusammenarbeit auf dem ersten Blick erscheinen mag: Beide Parteien könnten davon profitieren. David Cameron könnte Premierminister bleiben, wohingegen die SNP wahrscheinlich weitere Zugeständnisse hinsichtlich schottischer Autonomie erreichen könnte.

Jedoch ist die Rolle der SNP als Königsmacher nur eines von mehreren möglichen Ergebnissen. Sie basiert zwar auf Fisher and Jones‘ zentraler Wahl- und Sitzverteilungsvorhersage, jedoch lässt diese eine gewisse Fehlerspanne zu, welche gerade in sehr knappen Wahlkreisen großen Einfluss auf das Endergebnis habe kann. Verändert man die Sitzverteilung innerhalb der 95-Prozent-Konfidenzintervalle und berücksichtigt, welche Bündnisse politisch eigentlich möglich sind, ergibt sich ein deutlich komplexeres Bild. Fisher und Jones haben dies getan und zeigen im unten stehenden Kreisdiagramm wie wahrscheinlich verschiedene parlamentarische Mehrheitsverhältnisse im britischen Unterhaus nach der Wahl sind.[6] Zwar ist das Szenario, dass die SNP wirklich der informelle Königsmacher sein wird, sich also strategisch bei Abstimmungen enthält, das wahrscheinlichste, doch liegt diese Wahrscheinlichkeit bei nur 15 Prozent.

Dillinger 4

Bei Spekulationen über die künftige britische Regierung darf nicht vergessen werden, dass es neben den größeren Parteien (Conservatives, Labour, LibDem, SNP, UKIP) noch eine Reihe weiterer Parteien (z.B. die nordirische Democratic Unionist Party, die nordirische Social Democratic and Labour Party, die walisische Plaid Cymru, die Green Party) bzw. mit Sylvia Hermon eine bekannte unabhängige Abgeordnete gibt. Letztere haben zwar nur wenige Sitze, aber diese könnten angesichts der äußerst knappen Mehrheitsverhältnisse entscheidend sein. Die LibDems und die Democratic Unionist Party (DUP) könnten mit beiden großen Parteien zusammenarbeiten. Gerade die DUP dürfte so versuchen, mehr finanzielle Unterstützung für Nordirland zu erstreiten. Dagegen würden die Social Democratic and Labour Party, Plaid Cymru, die Green Party sowie Silvia Hermon fast sicher Labour den Konservativen vorziehen. Daher ist, laut Fisher und Jones, eine Labour-geführten Regierung wahrscheinlicher als ein Kabinett unter Vorsitz der Konservativen, obwohl die Tories wohl die stärkste Fraktion stellen werden. Eine große Koalition zwischen Konservativen und Labour ist natürlich rechnerisch immer möglich. Allerdings ist diese im Vereinigten Königreich politisch so undenkbar, dass beide Parteien all die anderen in der Abbildung dargestellten Bündnisse und eventuell sogar Neuwahlen einer großen Koalition vorziehen würden.

Sollten am Wahlabend mehrere Bündnisse möglich sein, könnte dies im Laufe der Legislaturperiode weiter an Brisanz gewinnen. Wenn eine Regierung durch ein Misstrauensvotum gestürzt wird, gibt es laut dem 2011 Fixed-term Parliaments Acts eine Frist von 14 Tagen, in denen eine neue Regierung gebildet werden kann. So könnte es zu mehr als nur einer Regierungsumbildung kommen, bevor es tatsächlich zu Neuwahlen kommt. Vieles deutet folglich darauf hin, dass zumindest ein Trend am 07. Mai fortgesetzt wird. Abermals könnten Beobachter der britischen Politik debattieren: Zeitenwende oder Ausreißer?

 

Nützliche Links

Zum Forschungsprojekt von Steve Fisher und Jonathan Jones: www.electionsetc.com

Zum Wahlausgang 2010: http://news.bbc.co.uk/2/shared/election2010/results

Zur aktuellen Sitzzusammensetzung des Britischen Unterhauses: www.parliament.uk/mps-lords-and-offices/mps/current-state-of-the-parties

Zum Gesetzestext des Fixed-term Parliaments Acts: www.legislation.gov.uk/ukpga/2011/14/section/2/enacted

Verwendete Literatur:

Helms, Ludger (2006) Das Parteiensystem Großbritanniens. In O. Niedermayer, R. Stöss und M. Haas, eds. Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden: VS Verlag, S. 212 – 233.

McLean, Ian (2001) Rational Choice and British Politics. An analysis of rhetoric and manipulation form Peel to Blair. Oxford: Oxford UP.

 


[1] Alle empirischen Daten sowie Schaubilder sind, sofern nicht anders angegeben, von Fisher und Jones Forchungsprojekt electionsetc.com, das sich der Vorhersage der Parlamentswahl widmet. Für weitere Informationen sowie Details zum Berechnungsverfahren ist ein Besuch der Website nachdrücklich empfohlen.

[2] McLean, 2001, p. 87.

[3] Helmes, 2006, S. 216.

[4] Fisher und Jones rechnen mit 323 und nicht 326 Sitzen, da sie vermuten, dass die nordirische Sinn Fein zwar wieder 5 Sitze gewinnen, diese aber erneut nicht antreten wird.

[5] McLean, 2000, S. S. 170 – 171.

[6] Sie stützen sich dabei auf diese 17 Annahmen: http://electionsetc.com/methods/parliamentary-arithmetic/ [23.03.2015].

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Das Schweizer Stimmvolk sagt zweimal ‘Nein!’

 

Die direkte Demokratie erfährt in Deutschland konstant hohe Zustimmungswerte in Meinungsumfragen. Entsprechend wird sie oft als institutionelle Antwort auf wachsende politische Unzufriedenheit, wie sie sich auch in Einzelphänomenen wie PEGIDA manifestiert, diskutiert, von populistischen Bewegungen wie dieser auch explizit eingefordert. Auf Ebene der Länder und Kommunen wurde die direkte Demokratie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ausgeweitet und verstärkt genutzt. Auf nationaler Ebene ist sie jedoch nicht existent. In Folge der Bundestagswahl 2013 führten SPD und CSU auf der einen und die CDU auf der anderen Seite kurz einen offen ausgetragenem Streit, in dem sich letztlich die CDU mit ihrer Ablehnung von Volksentscheiden auf Bundesebene durchsetzte. Damit bleibt die Bundesrepublik Deutschland eines der wenigen Länder Europas, das weder Volksabstimmungen (außer für den unwahrscheinlichen Fall einer Neuordnung der Länder) auf nationaler Ebene vorsieht noch jemals eine solche abgehalten hat. Es lohnt sich also ein Blick ins Ausland, um mehr über die Funktionswiese der direkten Demokratie und ihre Bedeutung für die repräsentative Demokratie auf nationaler Ebene zu erfahren.

Dieser Blick führt naturgemäß über die südliche Grenze in das Nachbarland Schweiz. Die Eidgenossenschaft verfügt weltweit über das ausgeprägteste und am stärksten genutzte Instrumentarium der direkten Demokratie. Am vergangen Sonntag, dem 8. März 2015, stimmten die BürgerInn dort wieder über zwei nationale Volksinitiativen ab – im vergangenen Jahr allein stimmten die Schweizer BürgerInnen über insgesamt 12 Vorlagen ab, davon neun Volksinitiativen. Von Letzteren wurden nur zwei angenommen.

Die Volksinitiative, vollständig Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung, ist das stärkste Instrument der direkten Demokratie der Schweiz. Sie erlaubt es, jedeR BürgerIn, vorausgesetzt sie sammeln innerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften, einen Gesetzesvorschlag zur Abstimmung zu bringen und damit auch entgegen dem Willen der Regierung Politik zu gestalten. Die Volksinitiative unterliegt dabei keinen thematischen Beschränkungen.

Jedoch machen die Schweizer BürgerInnen davon jedoch weniger Gebrauch als man vielleicht zunächst, auch nach der prominenten Berichterstattung über die denken mag. Nur die wenigsten Volksinitiativen sind tatsächlich erfolgreich, werden von einer Mehrheit der Schweizer BürgerInnen (Volksmehr) und Kantone (Ständemehr) angenommen.

e.f-1

Auch am Sonntag zeigte sich erneut die Schwierigkeit, die BürgerInnen von einer Änderung des Status quo zu überzeugen. Beide Initiativen scheiterten deutlich. Keine der Initiativen konnte dabei auch nur in einem Kanton eine Mehrheit erzielen. Dies war zum einen die Volksinitiative “Energie- statt Mehrwertsteuer” sowie die Volksinitiative “Familien stärken! Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen”. Erstere schlug eine Abschaffung der Mehrwertsteuer vor. Diese sollte durch eine Ressourcensteuer auf die Produktion und die Einfuhr nicht nachwachsender Energieträger wie Kohle, Erdöl, Gas und Uran ersetzt werden. Die Familien-Initiative schlug vor, von Unternehmen an ihre Mitarbeiter gezahlte Kinder- und Ausbildungszulagen von der Steuerpflicht auszunehmen. Beide Vorschläge hätten erhebliche Auswirkungen auf den Bundeshaushalt der Eidgenossenschaft gehabt. So war es vor allem die Sorge um Steuerausfälle, die laut Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.bern, die StimmbürgerInnen mehrheitlich mit Nein stimmen ließ.

Die Volksinitiative, eigentlich ein Mittel für das Volk, um Themen, auf die Agenda und zur Abstimmung zu bringen, wird seit einiger Zeit auch verstärkt von Parteien genutzt. So wurden beide Initiativen, die am Sonntag zur Abstimmung standen von Parteien lanciert. Die Volksinitiative “Energie- statt Mehrwertsteuer” wurden von der Grünliberalen Partei (GLP) lanciert. Hinter der Initiative “Familien stärken! Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen” stand die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP). Beide Initiativen verfehlten in allen 26 Kantonen der Schweiz, wie auf Karten ersichtlich, deutlich die Mehrheit. Während die Energiesteuer noch die stärkste Unterstützung im Nordosten erfuhr (lediglich bis zu 14%), war die Familieninitiative im Südosten am erfolgreichsten (lediglich bis zu 14%). Hier stellt sich jedoch auch die Frage, ob das primäre Ziel der Parteien tatsächlich ist, die angestrengte Abstimmung auch zu gewinnen. Die Parteien nutzen die Initiative gerne, um für sich und ihre Themen zu werben und Aufmerksamkeit zu erlangen. Im Oktober 2015 findet in der Schweiz die Nationalratswahl statt. Daher wird in der Schweiz auch immer wieder diskutiert, ob den Parteien das Recht Volksinitiativen zu lancieren verwährt werden sollte – jedoch mit ähnlicher Konsequenz, wie über die Einführung direkter Demokratie in Deutschland diskutiert wird.

f.f-1

Für die Grünliberale Partei war es die erste Volksinitiative überhaupt. Sie erfuhr damit gleich eine Bauchlandung. Sie erzielte einen historisch niedrigen Ja-Stimmenanteil von nur 8% landesweit. Mit 175.769 lag die Zustimmung zu ihrer Initiative damit nur unwesentlich über den Unterschriften, die sie zuvor zur Lancierung der Initiative gesammelt hatte (benötigt werden mindestens 100,000). Der niedrigste Anteil Ja-Stimmen 3.9% verzeichnete in Valais / Wallis. Die höchste Zustimmung mit dennoch mageren 14% erfuhr die Initiative in Basel-Stadt.

Die CVP war mit ihrer Initiative deutlich erfolgreicher als die GLP verfehlte jedoch auch in allen Kantonen eine Mehrheit. Der Mehrheit noch am nächsten und dennoch deutlich unter 50% der Abstimmenden kam sie im Kanton Jura wo 42.8% für die Initiative stimmten. Der niedrigste Ja-Stimmenanteil wurde im Kanton Glarus verzeichnet (16.9%).

Acht Prozent landesweite Zustimmung war das zweitschlechteste Ergebnis einer Volksinitiative in der Geschichte der Schweiz, Volksabstimmungen auf nationaler Ebene gibt es dort seit 1848. Nur die Volksinitiative «Getreideversorgung» im Jahre 1929 erzielte mit 2.67737% ein schlechteres Ergebnis (s. Tabelle der niedrigsten Zustimmungsraten). Damals stimmten sogar weniger Menschen für die Initiative, als zuvor für sie unterschrieben hatten. Dieses Schicksal blieb der Initiative der GLP erspart.


Datum Typ Titel % Ja
03.03.1929 Volksinitiative Volksinitiative «Getreideversorgung» 2.68
08.03.2015 Volksinitiative Volksinitiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» 8.00
18.02.1923 Volksinitiative Volksinitiative «Schutzhaft» 11.01
15.04.1951 Volksinitiative Volksinitiative «zur Sicherstellung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung» (Freigeldinitiative) 12.45
03.12.1922 Volksinitiative Volksinitiative «für die Einmalige Vermögensabgabe» 12.96
20.02.1938 Volksinitiative Volksinitiative «Private Rüstungsindustrie» 13.60
20.02.1938 Volksinitiative Volksinitiative «betreffend die dringlichen Bundesbeschlüsse und die Wahrung der demokratischen Volksrechte» 15.22
05.10.1952 Fakultatives Referendum Bundesbeschluss über den Einbau von Luftschutzräumen in bestehenden Häusern 15.49
03.12.1972 Volksinitiative Volksinitiative «zur Einführung einer Volkspension» 15.63
02.12.1984 Volksinitiative Volksinitiative «für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft» 15.78

Das Ergebnis ist sogar das schlechteste Ergebnis seit Einführung des Frauenstimmrechts. Dieses wurde in der Schweiz auf nationaler Ebene erst im Jahr 1971 per Volksabstimmung durchgesetzt. Für diese stimmten damals 65.7% landesweit. Bisher lag die tiefste Zustimmung seit Einführung des Frauenstimmrechts bei 15.6 Prozent. Diese Niederlage kassierte im Jahr 1972 die Vorlage Volksinitiative «zur Einführung einer Volkspension».

Am 14. Juni 2015 werden die SchweizerInnen erneut zur Abstimmung gebeten – diesmal über vier Vorlagen, darunter zwei Volksinitiativen.

 

 

Arndt Leininger ist Doktorand an der Hertie School of Governance. Seine Forschungsschwerpunkte sind Direkte Demokratie, Vergleichende Politikwissenschaft, Repräsentation und Wahlforschung. Arndt hat einen MSc in Political Science and Political Economy der London School of Economics and Political Science und einen Bachelorabschluss in Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zwischen 2012 und 2013 hat er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Sven-Christian Kindler, MdB gearbeitet. Twitter: @a_leininger

Daten und Code zur Reproduktion der Karten und Tabelle finden sich auf: GitHub. Shapefiles von ArcGIS. Abstimmungsergebnisse von Statistik Schweiz.

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar