Alles neu macht der Mai? – Weniger als 50 Tage vor der Parlamentswahl in Großbritannien

Von Matthias Dilling

Zeitenwende oder Ausreißer? Dies war die Frage, die nach der Parlamentswahl 2010 die Beobachter britischer Politik entzweite. Gerade hatte mit David Camerons konservativ-liberalem Kabinett die erste Koalitionsregierung seit Winston Churchills Kriegsregierung der nationalen Einheit die Arbeit aufgenommen. Fünf Jahre später, nunmehr weniger als 50 Tage vor der Parlamentswahl 2015, scheint eines klar: Eine Rückkehr zur Ein-Parteien-Regierung wird es in diesem Jahr nicht geben. Oder vielleicht doch? Denn obwohl die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit eines sogenannten „Hung parliaments“ (eines Parlaments, in dem keine der vertretenen Parteien eine Mehrheit der Sitze innehat) wie unten gezeigt bei 87 Prozent liegt,[1] deutet die Vielfalt an potentiellen Bündnissen auf einen schwierige Regierungsbildungsprozess hin. Am Ende könnten sogar unmittelbare Neuwahlen stehen.

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Dieser Blog-Artikel soll helfen, einen besseren Eindruck dafür zu bekommen, wer nach dem 7. Mai 2015 in 10 Downing Street die Regierungsgeschäfte lenken wird. Dafür wird zunächst auf einige Besonderheiten des britischen Wahlsystems eingegangen, um zu verstehen, warum ein einfacher Blick auf die Umfragen für eine solide Vorhersage nicht hinreichend ist. In einem zweiten Schritt wird auf die Besonderheit Schottlands und der Scottish National Party (SNP) eingegangen, welcher die Rolle des Königsmachers zukommen könnte. Jedoch lassen die wohl knappen Mehrheitsverhältnisse auch andere Bündnisse möglich erscheinen. Aufbauend auf statistische Vorhersagen von Steve Fisher (University of Oxford) und Jonathan Jones wird auf diese im letzten Teil dieses Beitrags eingegangen.

Zunächst muss berücksichtigt werden, dass ausschließlich die parlamentarische Sitzverteilung für die Regierungsbildung entscheidend ist.[2] Demnach hilft uns der alleinige Blick auf Wählerstimmen recht wenig. Betrachtet man die Vorhersagen von Fisher und Jones sowie den Durchschnittswert bisheriger Umfragen in der folgenden Abbildung, haben die Konservativen (34,3 Prozent) einen leichten Vorteil vor Labour (31,6 Prozent), gefolgt von der europafeindlichen und rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP) mit 13 Prozent und dem aktuellen Koalitionspartner Camerons, den Liberal Democrats (LibDem; 9,9 Prozent). 11,2 Prozent würden eine der sonstigen Parteien wählen.

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Allerdings hat die Übersetzung von Wählerstimmen in Parlamentssitze im britischen Mehrheitswahlrecht schon einige verwunderliche Ergebnisse erbracht. Da nur der Gewinner in einem Wahlkreis gewählt wird und alle übrigen Wählerstimmen für die nachfolgenden Kandidaten verfallen, kann die Zusammensetzung des Parlaments teilweise erheblich vom proportionalen Wahlergebnis abweichen. Beispielsweise gewannen Labour (48,8 Prozent) and die Konservativen (48,0 Prozent) 1951 fast den gleichen Stimmenanteil, wohingegen Labour 20 Parlamentssitze verlor und die Tories 22 gewannen. Noch deutlicher wurde der Effekt des Wahlsystems 1983: Das sozialdemokratisch-liberale Wahlbündnis gewann zwar 25,4 Prozent der Stimmen, erhielt jedoch nur 3,6 Prozent der Sitze.[3] Schauen wir folglich auf die vorhergesagte Sitzverteilung, ergibt sich ein leicht anderes Bild:

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Dies bestätigt zwar, dass beide großen Parteien die für die Mehrheit der Sitze notwendigen 323 Sitze[4] wohl klar verpassen werden (Conservatives: 284 Sitze; Labour: 278 Sitze), jedoch wird UKIP deutlich weniger Einfluss haben als die Umfragen vermuten lassen. Schätzungen sagen den Rechtspopulisten lediglich drei Sitze voraus. Dagegen gewinnt eine Partei an parlamentarischer Bedeutung, welche das Vereinigte Königreich im Vergangenen Jahr an den Rand des Auseinanderbrechens gebracht hatte – die Scottish National Party (SNP).

Weniger als ein Jahr nach der Niederlage der SNP bei dem Referendum zur schottischen Unabhängigkeit wird die SNP wohl ihren Sitzanteil in Schottland fast vervierfachen (SNP Ergebnis 2010: sechs Sitze). Sie könnte so, mit vorgesagten 41 Sitzen, zum Königsmacher werden – also entweder Labour oder die Konservatives durch Tolerierungsabkommen oder Enthaltungen eine Mehrheit verschaffen. Entgegen häufiger Annahmen, muss dies aber kein Vorteil für Labour sein.

Zwar gab es parlamentarische Deals zwischen der SNP und Labour bereits in den 70er-Jahren und sicherlich steht die SNP Labour in sozioökonomischen Fragen allgemein deutlicher näher als den Tories, jedoch liegt genau darin die große Gefahr für Labour. Schottland war traditionell Labour’s Hochburg. Nun läuft ihr dort aber die SNP, die sich nicht nur als regionalistische, sondern auch sozialdemokratische Partei präsentiert, den Rang ab. Labour braucht aber die schottischen Wahlkreise, um je wieder eine Chance auf eine landesweite Alleinregierung zu haben. Eine gemeinsame Zusammenarbeit in Westminster könnte schottischen Labour-Wählern signalisieren, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Unterschiede zwischen der SNP und Labour nur marginal seien. Dies könnte sie ermutigen, künftig für die Partei zu stimmen, die neben ihren sozial-wirtschaftlichen zusätzlich noch ihre regionalen Interessen vertritt – die SNP. Dies wäre das Ende für den schottischen Regionalverband von Labour und für die Regierungsträume der gesamten Labour-Partei. Labour hat demnach gute Gründe, eine Zusammenarbeit mit der SNP abzulehnen.

Im Gegenzug spekulieren einige Beobachter, dass eine Zusammenarbeit zwischen der SNP und den Konservativen nicht völlig abwegig sei. Sicherlich, die Tories würden einen beträchtlichen Imageverlust riskieren, sollten sie, als Party of the Union, mit den Regionalisten paktieren. Außerdem hat die SNP formal ausgeschlossen, die Konservativen als Koalitionspartner oder durch parlamentarische Unterstützung an der Regierung zu halten. Dies schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass sich die SNP bei bestimmten Abstimmungen im Parlament (z.B. einem Misstrauensvotum gegen ein konservatives Kabinett) enthalten könnte. Dies könnte für die Tories aber schon ausreichen, um eine Mehrheit zu erlangen. Raum für informelle Absprachen und Deals wäre folglich vorhanden. Zudem gibt es Präzedenzfälle, in denen Regionalisten auch mit anderen Parteien als Labour in Westminster zusammenarbeiteten. Zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Phase der Kooperation zwischen der liberalen Regierung und den irischen Nationalisten.[5] So unmöglich eine Tories-SNP-Zusammenarbeit auf dem ersten Blick erscheinen mag: Beide Parteien könnten davon profitieren. David Cameron könnte Premierminister bleiben, wohingegen die SNP wahrscheinlich weitere Zugeständnisse hinsichtlich schottischer Autonomie erreichen könnte.

Jedoch ist die Rolle der SNP als Königsmacher nur eines von mehreren möglichen Ergebnissen. Sie basiert zwar auf Fisher and Jones‘ zentraler Wahl- und Sitzverteilungsvorhersage, jedoch lässt diese eine gewisse Fehlerspanne zu, welche gerade in sehr knappen Wahlkreisen großen Einfluss auf das Endergebnis habe kann. Verändert man die Sitzverteilung innerhalb der 95-Prozent-Konfidenzintervalle und berücksichtigt, welche Bündnisse politisch eigentlich möglich sind, ergibt sich ein deutlich komplexeres Bild. Fisher und Jones haben dies getan und zeigen im unten stehenden Kreisdiagramm wie wahrscheinlich verschiedene parlamentarische Mehrheitsverhältnisse im britischen Unterhaus nach der Wahl sind.[6] Zwar ist das Szenario, dass die SNP wirklich der informelle Königsmacher sein wird, sich also strategisch bei Abstimmungen enthält, das wahrscheinlichste, doch liegt diese Wahrscheinlichkeit bei nur 15 Prozent.

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Bei Spekulationen über die künftige britische Regierung darf nicht vergessen werden, dass es neben den größeren Parteien (Conservatives, Labour, LibDem, SNP, UKIP) noch eine Reihe weiterer Parteien (z.B. die nordirische Democratic Unionist Party, die nordirische Social Democratic and Labour Party, die walisische Plaid Cymru, die Green Party) bzw. mit Sylvia Hermon eine bekannte unabhängige Abgeordnete gibt. Letztere haben zwar nur wenige Sitze, aber diese könnten angesichts der äußerst knappen Mehrheitsverhältnisse entscheidend sein. Die LibDems und die Democratic Unionist Party (DUP) könnten mit beiden großen Parteien zusammenarbeiten. Gerade die DUP dürfte so versuchen, mehr finanzielle Unterstützung für Nordirland zu erstreiten. Dagegen würden die Social Democratic and Labour Party, Plaid Cymru, die Green Party sowie Silvia Hermon fast sicher Labour den Konservativen vorziehen. Daher ist, laut Fisher und Jones, eine Labour-geführten Regierung wahrscheinlicher als ein Kabinett unter Vorsitz der Konservativen, obwohl die Tories wohl die stärkste Fraktion stellen werden. Eine große Koalition zwischen Konservativen und Labour ist natürlich rechnerisch immer möglich. Allerdings ist diese im Vereinigten Königreich politisch so undenkbar, dass beide Parteien all die anderen in der Abbildung dargestellten Bündnisse und eventuell sogar Neuwahlen einer großen Koalition vorziehen würden.

Sollten am Wahlabend mehrere Bündnisse möglich sein, könnte dies im Laufe der Legislaturperiode weiter an Brisanz gewinnen. Wenn eine Regierung durch ein Misstrauensvotum gestürzt wird, gibt es laut dem 2011 Fixed-term Parliaments Acts eine Frist von 14 Tagen, in denen eine neue Regierung gebildet werden kann. So könnte es zu mehr als nur einer Regierungsumbildung kommen, bevor es tatsächlich zu Neuwahlen kommt. Vieles deutet folglich darauf hin, dass zumindest ein Trend am 07. Mai fortgesetzt wird. Abermals könnten Beobachter der britischen Politik debattieren: Zeitenwende oder Ausreißer?

 

Nützliche Links

Zum Forschungsprojekt von Steve Fisher und Jonathan Jones: www.electionsetc.com

Zum Wahlausgang 2010: http://news.bbc.co.uk/2/shared/election2010/results

Zur aktuellen Sitzzusammensetzung des Britischen Unterhauses: www.parliament.uk/mps-lords-and-offices/mps/current-state-of-the-parties

Zum Gesetzestext des Fixed-term Parliaments Acts: www.legislation.gov.uk/ukpga/2011/14/section/2/enacted

Verwendete Literatur:

Helms, Ludger (2006) Das Parteiensystem Großbritanniens. In O. Niedermayer, R. Stöss und M. Haas, eds. Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden: VS Verlag, S. 212 – 233.

McLean, Ian (2001) Rational Choice and British Politics. An analysis of rhetoric and manipulation form Peel to Blair. Oxford: Oxford UP.

 


[1] Alle empirischen Daten sowie Schaubilder sind, sofern nicht anders angegeben, von Fisher und Jones Forchungsprojekt electionsetc.com, das sich der Vorhersage der Parlamentswahl widmet. Für weitere Informationen sowie Details zum Berechnungsverfahren ist ein Besuch der Website nachdrücklich empfohlen.

[2] McLean, 2001, p. 87.

[3] Helmes, 2006, S. 216.

[4] Fisher und Jones rechnen mit 323 und nicht 326 Sitzen, da sie vermuten, dass die nordirische Sinn Fein zwar wieder 5 Sitze gewinnen, diese aber erneut nicht antreten wird.

[5] McLean, 2000, S. S. 170 – 171.

[6] Sie stützen sich dabei auf diese 17 Annahmen: http://electionsetc.com/methods/parliamentary-arithmetic/ [23.03.2015].

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