Auf dem Weg zu einer vergleichenden Politikwissenschaft alternder Gesellschaften

von Pieter Vanhuysse

Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Englischen von Janina Schrödter und Achim Goerres. Das Original findet sich hier.

Pieter Vanhuysse skizziert hier die Befunde seines mit Achim Goerres herausgegebenen Buches „Ageing Populations in Post-Industrial Democracies“ entlang von drei grundlegenden Fragen zu Politik alternder Gesellschaften.

Kann ein steigender Anteil älterer Wähler tatsächlich zu mehr Macht der Rentner führen? Die meisten reichen Demokratien sehen sich – als Resultat einer höheren Lebenserwatung und niedrigen Geburtenraten – mit einer signifikant älter werdenden Gesellschaft konfrontiert. Viele befürchten nun, dass ältere Wähler zu einer sehr machtvollen politischen Interessengruppe werden. Die alternde Bevölkerung umfasst nämlich nicht nur immer mehr ältere Menschen, die auch wahlberechtigt sind, sondern diese älteren Wahlberechtigten tendieren auch dazu, tatsächlich häufiger wählen zu gehen als jüngere Wähler. Eine Anzahl von ‚Grey Power‘-Theoretikern sind deshalb der Meinung, dass alternde Gesellschaften die Politiker unter Druck setzen, immer höhere Pensionen und andere  politische Regelungen für ältere Menschen bereitzustellen – eine Aussage, die häufig nicht aufrechterhalten bleiben kann.

Trotz einiger früherer Beiträge hinken die modernen Disziplinen der Politikwissenschaft und der politischen Soziologie bei der Entwicklung eines umfassenden „body of knowledge“ zum Thema alternde Gesellschaft ein wenig hinterher. Zurzeit haben explizit komparative und politische Erklärungsansätze, die sich eingehend mit langfristigen wahl- und institutionellen Prozessen sowie der Kulturpolitik befassen, eine bessere Chance den Prozess der politischen Bevölkerungsalterung zu erklären als lediglich demografische oder deskriptive Sozialpolitik oder Ansätze der Gerontologie. Die Einführung dieser politischen Sicht stellt Einblicke bereit, die stärker theoretisch aufbereitet und institutionell komplexer sind, als die zunehmend schrille und alarmierende Behauptung die erst kürzlich über angebliche ‚gerontologische‘ Wohlfahrtsstaaten gemacht wurde, die von entsetzlichen ‚Babyboomer-Allianzen‘ von ‚gierig grauen‘ Wählern und ‚kurzsichtigen‘ oder populistischen Politikern gemacht wurden.

Dieser neue Ansatz wird in Ageing Populations in Post-Industrial Democracies: Comparative Studies of Policies and Politics vertreten, die in Kooperation mit Achim Goerres (Universität Duisburg-Essen) entstand.

 

Die Politik der Einbußen für Rentner: Die Mitwirkenden an Ageing Populations in Post-Industrial Democracies sind beispielsweise der Meinung, dass alternde Gesellschaften gleichzeitig zu einem Aufschub bei der Einbringung von großen Pensionsvorteilen, zu großzügigen Kürzungen und zur Beschleunigung von mittelgroßen Kürzungen führen. Durch eine Modifizierung des theoretischen Vorstellungsschlüssels, dass die meisten Akteure wenig abgeneigt sind, argumentiere ich in meinem Kapitel mit Markus Tepe. durch die Nutzung einer historischen Ereignisanalyse, dass alternde Gesellschaften heutzutage als machtvolle Alarmsignale funktionieren können. Sie stecken Gesetzesmacher in einen ‚nachteiligen Rahmen‘ und drängen sie so dazu sich durchzuwurschteln, indem sie schrittweise Kürzungen lieber früher als später implementieren – aber vielleicht nur um besser in der Lage zu sein wirklich risikoreiche und größere Kürzungen bis zur Wahl aufzuschieben. Politiker beißen lieber mit relativ kleinen Kürzungen in den sprichwörtlichen sauren Apfel, um größere Kürzungen zu verschieben. Tepe und ich fanden weiterhin, dass weder der Druck der kommenden Wahlen noch die Menge der Einspruchspunkte des politischen Systems irgendeinen Effekt auf den Zeitpunkt der Rentenkürzungen hatten. Aber die Macht der Anhänger ist relevant: eher rechte Regierungen implementieren Policies mit Einbußen für Rentner generell deutlich früher als linke Regierungen.

Andere Kapitel in Ageing Populations in Post-Industrial Democracies widersprechen häufigen Behauptungen über eine mutmaßliche Politiksklerose und Reformresistenz in alternden Demokratien. Zum Beispiel beschreibt Jennifer Sciubba, dass alle drei der demografisch ältesten OECD Gesellschaften (Italien, Deutschland und Japan) es im letzten Jahrzehnt fertiggebracht haben Politikreformen durchzusetzen, die den Interessen der älteren Wähler direkt widersprechen. Bei der Erforschung der zwei liberalsten OECD Wohlfahrtsstaaten (Großbritannien und die USA) fanden Jonas Edlund und Stefan Svallfors sehr unterschiedliche zeitliche Dynamiken in der wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung, die sich durch die jüngste sozialpolitische Geschichte erklären lässt. Außerdem gibt es keinen Beweis, dass Altersunterschiede bei der Erklärung sozialpolitischer Einstellung an die Stelle von Klassenunterschieden treten können. Wenn, dann werden Kohortenunterschiede über die Zeit eher weniger als mehr betont. Diese Feststellung besiegelt das Schicksal der simplen ‚Gerontokratie‘ oder der ‘Kriege zwischen den Generationen‘  Argumente.

Graue Parteien und junge Familien. Vor allem Rentnerparteien, die ihre Interessen zielstrebig voranbringen, sind ein weiterer Buhmann, den man in allen Altersstufen erwartet. Dennoch werden diese Parteien in Sean Hanleys Kapitel damit beschrieben, dass sie nur in solchen Demokratien erfolgreich waren, in denen adäquate Stufen der Selbstorganisation älterer Menschen mit bereits existierenden Stufen der pro-älteren Zuwendung kombiniert wurden. In einer allerersten Analyse grauer Parteien in insgesamt 31 Demokratien fand Hanley heraus, dass das größte Hindernis für die Gründung grauer Parteien in Westeuropa die Stabilität von etablierten Parteien und Parteisystemen ist, sowie deren anhaltender Erfolg ältere Wähler anzusprechen. In Osteuropa hingegen ist vor allem die schwache gesellschaftliche Organisation älterer Menschen ein großes Hindernis für graue Parteien, aber auch ein sich wandelndes jedoch festes Angebot an ‚catch-all‘ populistischen Protestparteien. Hanley argumentiert, dass westeuropäische Rentnerparteien gerne eine linke, anti-staatliche Strategie einschlagen, in der sie spezifische Forderungen für ältere Wähler einbauen. In Osteuropa finden graue Parteien vor allem in weniger stabilen Parteisystemen Nischen, in denen sie erfolgreich werden.

Auf der anderen Seite des Generationsspektrums sorgt vor allem die hohe Solidarität in den Familien für eine steigende Nachfrage nach staatlicher Kinderbetreuung – allerdings nur in jenen Wohlfahrtsstaaten, die bereits sehr aktiv in der Bereitstellung von Kinderbetreuung sind. Im Kapitel von Achim Goerres und Markus Tepe zeigt sich, dass junge Familien kognitiv gezwungen sind von der Politik Vorteile für ihre Altersgruppe zu fordern. In Wohlfahrtsstaaten die nur wenig Unterstützung für Familien bereitstellen wird diese von jungen Einwohnern auch nicht gefordert – vielleicht weil sie gelernt haben nicht viel vom Staat zu erwarten. Goerres und Tepe schlussfolgern, dass Generationspolitikmodelle, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, noch heute sehr viel Einfluss auf die Erwartungen der Wähler aller Kohorten haben.

Alarmglocken der aktivierenden Reformen – aber keine alarmierenden Diagnosen der Gerontokratie. Zusammengefasst appellieren Achim Goerres und ich in Ageing Populations in Post-Industrial Democracies für eine Weiterentwickelung der komparativ-politischen und politisch-soziologischen Recherche zum politischen Prozess und den politischen Feedback-Effekten, die durch die alternde Gesellschaft entstehen. Die demografischen Alarmglocken, die zurzeit in vielen OECD-Ländern läuten, deuten auf einen akuten Bedarf an einem Umdenken in der Politik hin. Diese scheinen die Politiker zudem in immer engere wahltaktische- und fiskale Zwangsjacken zu stecken. Allerdings müssen sie nicht die Ursachen für den Alarm darstellen. Alternde Gesellschaften bieten mit Sicherheit dringende Argumente für die (re)Aktivierung der fiskalischen und humanen Kapitalbasis der alternden Wohlfahrtsstaaten und für die Bereitstellung besserer Rendite von dem intergenerationen-sozialen Pakt für heutige und spätere junge Generationen. Kein Zweifel, manche politische Akteure und einige entwickelte  Demokratien sind resistenter für solche Reformen als andere. Aber die institutionellen und soziologischen Komplexitäten und Kontextabhängigkeiten der Alterungspolitik rechtfertigen einfach nicht ein ‚one-size-fits-all‘ Rezept oder generationale Schuldzuweisungsspiele.

Literaturverweise

Vanhuysse, Pieter and Achim Goerres (eds) (2012) Ageing Populations in Post-Industrial Democracies: Comparative Studies of Policies and Politics. Abingdon: Routledge/ECPR Studies in European Political Science series.

Tepe, Markus S. and Vanhuysse, Pieter, Are Aging OECD Welfare States on the Path to the Politics of Gerontocracy? Evidence from 18 Democracies, 1980-2002 (August 14, 2008). Journal of Public Policy, 2009. Available at SSRN: http://ssrn.com/abstract=1225672

 

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