Wählen als Bürgerpflicht? Die subjektiv empfundene Wahlnorm der 16- und 17-Jährigen im Vergleich

von David Johann (DZHW & Universität Wien) und Sabrina Jasmin Mayer (Universität Duisburg-Essen). Vollständiger Artikel als PDF zum Download.

Eine Wahlaltersenkung auf 16 Jahre wird in vielen Ländern diskutiert – auch in Deutschland. Es verwundert daher nicht, dass sich in den letzten Jahren zahlreiche Studien mit Argumenten für und wider eine Senkung des Wahlalters auseinandergesetzt haben. Einige dieser Beiträge stehen einer Senkung des Wahlalters kritisch gegenüber. Die Autoren begründen ihre Skepsis mit der mangelnden politischen Reife 16- und 17-Jähriger, die sie z.B. an ihrem geringeren politischen Interesse und Wissensstand festmachen (so Chan und Clayton 2006 für Großbritannien). Studien zu Österreich, dem bisher einzigen Land in Europa, in dem 16- und 17-Jährige seit 2007 bei nationalen Wahlen (Nationalratswahlen und Europawahlen) wahlberechtigt sind, zeichnen hingegen ein anderes Bild. So zeigen Wagner et al. (2012) sowie Kritzinger und Zeglovits (2016), dass sich 16- und 17-Jährige zwar etwas seltener an Wahlen beteiligen, die Qualität ihrer Wahlentscheidungen (ermittelt über die ideologische Nähe zwischen Wähler/innen und gewählter Partei) aber mit jener älterer Wählerinnen und Wähler vergleichbar ist. Zudem weisen Johann und Mayer (2016) darauf hin, dass 16- und 17-jährige Österreicherinnen und Österreicher zwar durchaus Lücken im Kenntnisstand über die politischen Akteure und Positionen der Parteien aufweisen, diese Wissenslücken aber insgesamt nicht so gravierend sind, dass ihnen die Befähigung zur Wahlteilnahme abgesprochen werden kann.

Wir knüpfen an die genannten Studien zu Jungwählerinnen und -wählern an und stellen uns die Frage, inwieweit sich 16- und 17-Jährige von älteren Bürgerinnen und Bürgern in ihrer subjektiv empfundenen Wahlnorm unterscheiden.

Die subjektiv empfundene Wahlnorm ist ein wichtiger Faktor für die Beteiligung an Wahlen (vgl. z.B. Goerres 2010). Aus diesem Grund ist es wünschenswert, dass jüngere Wählerinnen und Wähler diese Norm in ähnlichem Ausmaß wie ältere Wählerinnen und Wähler verinnerlicht haben.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage greifen wir auf Daten der Österreichischen Nationalen Wahlstudie AUTNES zurück. Dies hat einen entscheidenden Vorteil: Da 16- und 17-Jährige in Österreich wahlberechtigt sind, können mögliche Unterschiede in der subjektiv empfundenen Wahlnorm zwischen dieser Altersgruppe und älteren Bevölkerungsgruppen nicht auf das fehlende Wahlrecht der 16- und 17-Jährigen zurückgefügt werden.

Die erste Welle der AUTNES Pre- and Post Panel Study 2013 (Kritzinger et al. 2016a, 2016b) beinhaltet zwei Fragen, welche die subjektiv empfundene Wahlnorm messen. Die Befragten sollten jeweils auf einer fünfstufigen Rating-Skala angeben, in welchem Ausmaß die Aussagen (1) „In der Demokratie ist es die Pflicht jedes Bürgers, sich regelmäßig an Wahlen zu beteiligen“ und (2) „Wenn ich an einer Wahl nicht teilnehme, habe ich ein schlechtes Gewissen“ zutreffen. Die beiden Aussagen decken unterschiedliche Aspekte der subjektiv empfundenen Wahlnorm ab. Die erste Frage nach der Bürgerpflicht bezieht sich auf ein allgemeines Wahlpflichtgefühl. Hier ist es möglich, dass lediglich internalisierte gesellschaftliche Normen wiedergegeben werden. Die zweite Frage zielt auf die eigene emotionale Bewertung einer möglichen Wahlenthaltung. Sie bildet ein individuelles Wahlpflichtgefühl, ein so genanntes „Wahlgewissen“, ab.

Wir betrachten beide Variablen zunächst separat. Zur Untersuchung von möglichen Geschlechterunterschieden werden beide Variablen zu einem Summenindex zusammengefasst.

Abbildung 1: Wahlnorm nach Alter
Dargestellt ist die Verteilung der Items, 1 „trifft gar nicht zu“ bis 5 „trifft voll und ganz zu“.
N=3192 (Item 1) bzw. N=3200 (Item 2). Die gestrichelte Linie kennzeichnet den Mittelwert. Die Daten wurden für die Analyse gewichtet.

Die Verteilungen der Antworten auf die beiden Aussagen sind in Abbildung 1 aufgeschlüsselt nach Altersgruppen dargestellt. Es zeigt sich, dass die Zustimmung zur ersten Aussage (Wählen ist Bürgerpflicht) größer ist als zur zweiten (Schlechtes Gewissen). Die mittlere Zustimmung unterscheidet sich zwischen den beiden Aussagen für alle Altersgruppe jeweils um ca. einen Skalenpunkt. Unabhängig vom Alter weisen die Befragten also ein höheres allgemeines Wahlpflichtgefühl auf.

Was Differenzen zwischen den Altersgruppen betrifft, ist die wahrgenommene Norm, sich an Wahlen zu beteiligen, bei 16- und 17-Jährige unabhängig vom betrachteten Item am schwächsten ausgeprägt. Die Unterschiede zur Altersgruppe ab 21 Jahren sind dabei statistisch hoch signifikant. Zwischen den Gruppen der 16- und 17-Jährigen und der 18- bis 20-Jährigen finden sich hingegen nur geringe, statistisch insignifikante Unterschiede.

In Abbildung 2 ist der Zusammenhang zwischen der Gesamtskala (Summenindex) und dem Alter der Befragten dargestellt, unterteilt nach Frauen und Männern.

LOESS-Kurve nach Geschlecht

Abbildung 2: Wahlnorm nach Alter und Geschlecht
Dargestellt sind LOESS-Kurve sowie das zugehörige 95%-Konfidenzintervall. Verwendet wurde der auf einen Wertebereich von 0 bis 8 rekodierte Summenindex. Die Daten wurden für die Analyse gewichtet.

Um den Effekt von Ausreißern abzuschwächen und das generelle Muster des Zusammenhangs zwischen den Variablen besser herauszustellen, wird eine geglättete LOESS-Kurve präsentiert (Jacoby 2000). Es zeigt sich unabhängig vom Geschlecht der Befragten, dass das subjektiv empfundene Wahlpflichtgefühl mit dem Alter steigt. Ferner ist ersichtlich, dass sich der Unterschied zwischen Männern und Frauen mit steigendem Alter angleicht: Während er bei Jungwählerinnen und -wählern (16 bis 20 Jahre) noch knapp 0,7 bis 0,9 Skalenpunkte beträgt, liegt er in der Altersgruppe ab 21 Jahren nur noch bei 0,1 Skalenpunkten.

Jungwählerinnen und -wähler, und hier insbesondere die 16- bis 17-Jährigen, weisen eine vergleichsweise schwache subjektiv empfundene Wahlnorm auf. Was bedeuten die Befunde nun für die Frage nach der Reife der 16- und 17-Jährigen bzw. die Diskussion über die Wahlaltersenkung? Sie verdeutlichen, dass eine Wahlaltersenkung durch Angebote zur politischen Bildung begleitet werden sollten, die eindeutig vermitteln, warum es für Bürgerinnen und Bürger essentiell ist, sich an Wahlen zu beteiligen. Kann in Zukunft Jungwählerinnen und -wählern das Gefühl, dass Wählen eine Bürgerpflicht ist, besser vermittelt werden, sollte dies positive Effekte auf die Wahlbeteiligung haben.

 

Referenzen

  • Chan, Tak Wing/Matthew Clayton (2006). Should the voting age be lowered to sixteen? Normative and empirical considerations, in: Political Studies, Vol. 54, 533-558.
  • Goerres, Achim (2010). Die soziale Norm der Wahlbeteiligung. Eine international vergleichende Analyse für Europa, in: Politische Vierteljahresschrift, Vol. 51, 275-296.
  • Jacoby, William G. (2000). Loess: a nonparametric, graphical tool for depicting relationships between variables. Electoral Studies, Vol. 19, 577-613.
  • Johann, David/Sabrina Jasmin Mayer (2016). Reif für die Wahl? Stand und Struktur des politischen Wissens in Österreich: Ein Vergleich der 16- und 17-Jährigen mit anderen Altersgruppen. Unveröffentlichtes Manuskript.
  • Kritzinger, Sylvia/Eva Zeglovits (2016). Wählen mit 16 – Chance oder Risiko? In: Jörg Tremmel/Markus Rutsche (Hg.): Politische Beteiligung junger Menschen. Grundlagen – Problemfelder – Fallstudien. Wiesbaden: Springer VS, 185-199.
  • Kritzinger, Sylvia;/Eva Zeglovits/Julian Aichholzer/Christian Glantschnigg/Konstantin Glinitzer/David Johann/Kathrin Thomas/Markus Wagner (2016a). AUTNES Pre- and Post Panel Study 2013 [Version 2.0.0], GESIS Datenarchiv, Köln. ZA5859.
  • Kritzinger, Sylvia;/Eva Zeglovits/Julian Aichholzer/Christian Glantschnigg/Konstantin Glinitzer/David Johann/Kathrin Thomas/Markus Wagner (2016b). AUTNES Pre- and Post Panel Study 2013 – Documentation [Version 2.0.0], Wien: Universität Wien.
  • Wagner, Markus/David Johann/Sylvia Kritzinger (2012). Voting at 16: turnout and the quality of vote choice, in: Electoral Studies, Vol. 31(2), 372-383.
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