Nein, wir brauchen keinen Wahlführerschein! Eine Replik auf den Beitrag von Gordian Ezazi

Von Florian Rabuza

In seinem Blogbeitrag „Politische Gleichheit und der ,Wahlführerschein´ “ auf regierungsforschung.de spricht der Autor Gordian Ezazi über die Debatte um die Einführung von Wahlpflicht in Demokratien und einem damit verbundenen höheren Maß an politischer Gleichheit. Er sieht die Einführung von Wahlpflicht kritisch und weist darauf hin, dass die bloße numerische Erhöhung der Wählerzahlen allein, die durch Wahlpflicht erreicht würde, noch keinen Zuwachs an politischer Gleichheit bedeute. Den neuen Wählerschichten fehlten nämlich grundlegende politische Fähigkeiten zur Artikulation wohlinformierter Interessen, weshalb Ezazi zusätzlich für die Einführung eines, wie er es nennt, „Wahlführerscheins“ [Anführungszeichen im Original] plädiert, der grundlegende politische Kompetenzen sicherstellen solle. In diesem Blogbeitrag möchte ich mich mit den theoretischen, methodischen und praktischen Problemen auseinander setzen, die den Ideen des Beitrags zu Grunde liegen, insbesondere mit dem völligen Fehlen einer demokratiegeschichtlichen Perspektive. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass zum einen die Effekte von Wahlpflicht auf die Gleichheit der Wahlbeteiligung von gesellschaftlichen Schichten unvollständig dargestellt werden und zum anderen nicht gesehen wird, dass politische Gleichheit im Sinne von Repräsentation von Interessen durch die parteiensystemischen Effekte von Wahlpflicht verbessert wird. Der wichtigste Punkt ist aber theoretischer Natur: Was sind politische Kompetenzen, die ein Wählerführerschein abprüfen bzw. sicherstellen soll?

Wahlpflicht

Viele sehen in der Einführung von Wahlpflicht ein vielversprechendes Mittel zur Förderung politischer Gleichheit im Sinne hoher Wahlbeteiligung über gesellschaftliche Schichten hinweg. Der Autor übernimmt diese Position und übersieht dabei ein entscheidendes Problem. Wahlpflicht sorgt zwar meist dafür, dass  viele Nichtwähler zu Wählern werden. Sie erfüllt eine egalisierende Funktion aber nur dann, wenn die Wahlbeteiligung  der Privilegierten in einem politischen System ohnehin schon sehr hoch ist. Dies rührt daher, dass Wahlpflicht keine heterogenen Effekte auf verschiedene Bevölkerungsgruppen zeitigt: Die Einführung von Wahlpflicht betrifft erst einmal alle Wähler in gleichem Maße und man muss sogar annehmen, dass die privilegierten Wählerschichten stärker auf sie reagieren. Ihre Wahlbeteiligung steigt somit mindestens in gleichem Maße wie die der schwächeren sozialen Schichten. Erst wenn die Wahlbeteiligung der sozial besser gestellten Wähler bereits sehr hoch ist, kann sich die Lücke durch einen mechanischen Effekt, den sog. ceiling-Effekt, tatsächlich schließen und damit mehr politische Gleichheit entstehen. Gallego (2014) legt dies sehr überzeugend dar. Diese wäre tatsächlich ein gewichtiges Argument gegen die Einführung von Wahlpflicht, da die von den meisten Menschen angenommenen Effekte gegen die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung gar nicht automatisch eintreten.

Jenseits der Effekte auf die Wahlbeteiligung hat Wahlpflicht aber, wie empirisch gezeigt wurde, entscheidende Effekte auf das Parteiensystem, indem sie z.B. ein breiteres ideologisches Spektrum erzeugt, in dem vor allem linke Parteien stärker repräsentiert sind. In diesem Sinne sind die positiven Effekte von Wahlpflicht (Jensen & Spoon, 2011) in Bezug auf die politische Repräsentation der Interessen unterschiedlicher sozialer Schichten nicht von der Hand zu weisen. Ihre Einführung würde demnach zumindest die Angebotsseite der Politik zugunsten der weniger privilegierten Wählerinnen und Wähler verändern, was für jeden, der politische Gleichheit als demokratisches Ideal betrachtet, wünschenswert ist.

Wahlpflicht kann auch aus anderen Gründen ein Weg zu mehr politischer Gleichheit sein. Die Habitualisierung politischer Partizipation ist ein theoretisch und empirisch etabliertes Konzept. Wer einmal wählen geht, tut es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wieder (Plutzer, 2002). Außerdem hat politische Partizipation als solche, wie der Autor selbst anmerkt, einen bildenden Effekt (Tolbert & Smith, 2005). Partizipation ist also nicht nur Wirkung sondern auch Ursache politischen Interesses und politischer Kompetenzen. Der einmal habitualisierte Wahlakt trägt damit in einer langfristigen Perspektive zumindest im Schnitt zur Erhöhung politischen Interesses und politischem Wissen bei und nimmt dem Argument eines durch Wahlpflicht stärker uninformierten Elektorats damit einigen Wind aus den Segeln. Was Partizipation ursprünglich ausgelöst hat, ist in dieser Perspektive egal, Hauptsache ist, dass der Prozess an irgendeiner Stelle angestoßen wird. Und wenn Wahlpflicht diese initialisierende Funktion erfüllt, dann ist das positiv zu bewerten.

 

Der Wahlführerschein

Der Autor plädiert in seinem Beitrag für die die Wahlpflicht begleitende Einführung eines Wahlführerscheins als ein „inkrementell zu durchlaufendes Testverfahren“. Auch wenn der Autor diesen Begriff in Anführungszeichen setzt, ruft er unweigerlich Assoziationen zu Konzepten wie Eignungsfeststellung oder-diagnostik hervor. Wenn dies nicht intendiert war, dann ist der Begriff zumindest sehr unglücklich gewählt. In der Wahlforschung ist hinlänglich bekannt, dass Tests z.B. in den USA als Repressionsinstrument vor allem schwarzer Wählerinnen und Wähler eingesetzt worden sind (Filer et al., 1991). Aber auch jenseits solcher krasser Beispiele zeigt die Forschung überdeutlich, dass jegliches institutionelles Arrangement, das den Wahlakt kognitiv oder logistisch schwieriger macht (vor allem aufwändige Registrierungsmechanismen oder komplizierte Wahlzettel), die Wahlbeteiligungen der niedrigeren sozialen Schichten negativ beeinflusst (z.B. Gallego, 2014; Pardos-Prado et al., 2014). Deshalb ist jedes Arrangement, das in diese Richtung zielt rigoros abzulehnen, solange man dem Prinzip one man, one vote anhängt. Von der Durchführbarkeit und den Problemen des Agenda-settings solcher Informations- und Testmaßnahmen zu sprechen wurde aus Platzgründen verzichtet.

Die wichtigste Frage lautet aber: Was sind eigentlich jene politische Kompetenzen, die der Autor anspricht? Sind das Kenntnisse über die Ausgestaltung des politischen Systems? Ist man kompetent, wenn man die etablierten Parteien benennen kann, weiß wie der Bundespräsident gewählt wird und welchen politischen Gestaltungsspielraum die Bundeskanzlerin hat? Letztlich sind solche Kompetenzen latente Konstrukte, die man irgendwie messen, also z.B. in Tests abprüfen, müsste. Das allein ist schon sehr schwierig, wie beispielsweise die Literatur zur Messung politischen Wissens zeigt. Aber geht es hier allein um politisches Sachwissen? Eher nicht, da der Autor ja vor allem moniert, dass die Anzahl nicht bedeutsam abgegebener Stimmen durch Wahlpflicht massiv steigen würde. Nicht bedeutsam in dem Sinne, dass sie nicht den wohlinformierten Präferenzen des Individuums entsprechen und dass sie in höherem Maße für extreme Parteien stimmen würden. Das heißt, wären die durch Wahlpflicht neu erschlossenen Wählerschichten wohlinformiert bezüglich ihrer Präferenzen, würden sie im Aggregat anders wählen. Dieses Argument ist paternalistisch und zeigt, dass die Literatur zum correct voting, insbesondere Lau und Redlawsk, nicht rezipiert wurde (z.B. Lau & Redlawsk, 2006). Hier werden correct votes operationalisiert als Stimmen, die z.B. in Einklang mit der ideologischen Sichtweise von Wählerinnen und Wählern abgegeben werden. Correct votes sind aber sicherlich keine Stimmen, die in irgendeiner Weise Politikpositionen entsprechen, die von (den gebildeten) Teilen des Elektorats als richtig erkannt wurden und die man im Rahmen des “Wahlführerscheinerwerbs” beigebracht bekommt. Es mag zwar sein, dass politisch versierte Menschen im Schnitt (!) besser in der Lage sind Verbindungen zwischen ihren Präferenzen und politischen Positionen herzustellen, aber wie um alles in der Welt sollen staatliche Test- und Bildungsmaßnahmen diese Fähigkeit massenhaft und mit elektoralen Konsequenzen abprüfen?

Außerdem bedeutet Demokratie ja gerade nicht, dass ich als Außenstehender bewerten kann, was Wähler X eigentlich wählen sollte, wäre er kompetent, sondern, dass jeder in der Lage ist seine eigenen Interessen zu formulieren. Robert Dahl bezeichnet das als strong principle of equality, und betrachtet es als konstituierendes Merkmal von Demokratie (Dahl, 1991). Natürlich kann man von Merkmalen wie der sozialen Lage eines Individuums darauf schließen, dass es materiell rational wäre für eine Partei zu stimmen, die Umverteilung verspricht, wenn es arm ist. Dies wäre aber ein eklatanter Reduktionismus, da Präferenzen komplexer strukturiert und durch objektive Merkmale nur unzureichend auf sie geschlossen werden kann. Vielleicht hasst das arme Individuum Umverteilung. Damit wäre aus der Sicht dieses Menschen die abgegebene Stimme für eine libertäre Partei korrekt.

Die Frage, welche politischen Kompetenzen also ein „Wahlführerschein“ messen soll, ist fundamental für die Argumentation des Autors und seine Ideen wie ein Mehr an politischer Gleichheit erreicht werden kann. Sie wird von ihm aber nicht überzeugend beantwortet. Meines Erachtens ist sie überhaupt nicht beantwortbar. Wenn ich aber nicht weiß, was ich messen möchte, sind die Probleme natürlich viel grundlegender als in einer Situation, in der ich nicht weiß wie ich ein definiertes latentes Konstrukt am besten messbar mache.

 

Fazit

Der Beitrag von Gordian Ezazi greift eine aktuelle Debatte um Wahlpflicht und politische Gleichheit auf, die nicht nur in der Politikwissenschaft geführt wird, sondern auch in den Medien immer wieder aufflammt, und die diese Aufmerksamkeit sicher auch verdient hat. Wahlpflicht ist kein Allheilmittel, das politische Gleichheit quasi per Konstruktion erzeugt. Ihre Einführung muss in jedem Einzelfall genau geprüft werden, da es von kontextuellen Einflüssen abhängt, ob sie tatsächlich die intendierte größere politische Gleichheit zur Folge hat. Es spricht einiges dafür, dass Wahlpflicht das Potential hat zu besserer politischer Repräsentation beizutragen, indem sie z.B. das Parteiensystem verändert.

Man kann bezüglich der Einführung von Wahlpflicht verschiedener Meinung sein, dem Statement des Autors im Fazit seines Beitrags „Eine Wahlteilnahmepflicht kann der politischen Gleichheit nur dann nachhaltig förderlich sein, wenn diese durch einen […] „Wahlführerschein“ ergänzt würde“ möchte ich aber vehement widersprechen. Das letzte, was wir in Demokratien brauchen sind „Wahlführerscheine“ oder wie auch immer zu bezeichnende Eignungsfeststellungen, die den Akt des Wählens komplizierter machen und zur Teilnahme am politischen Leben qualifizieren. Vielmehr sollten nicht zuletzt die Parteien sich fragen, warum die Anzahl gewohnheitsmäßiger Nichtwähler so hoch ist.

 

 

 

Verwendete Quellen

Dahl, R. A. (1991). Democracy and its Critics: Yale University Press.

Filer, J. E., Kenny, L. W., & Morton, R. B. (1991). Voting laws, educational policies, and minority turnout. Journal of Law and Economics, 371-393.

Gallego, A. (2014). Unequal Participation Worldwide. Cambridge: Cambridge University Press.

Jensen, C. B., & Spoon, J.-J. (2011). Compelled without direction: Compulsory voting and party system spreading. Electoral Studies, 30(4), 700-711.

Lau, R. R., & Redlawsk, D. P. (2006). How voters decide: Information processing in election campaigns: Cambridge University Press.

Pardos-Prado, S., Galais, C., & Muñoz, J. (2014). The dark side of proportionality: Conditional effects of proportional features on turnout. Electoral Studies, 35, 253-264.

Plutzer, E. (2002). Becoming a Habitual Voter: Inertia, Resources, and Growth in Young Adulthood. American Political Science Review, 96(1), 41-56.

Tolbert, C. J., & Smith, D. A. (2005). The educative effects of ballot initiatives on voter turnout. American Politics Research, 33(2), 283-309.

 

 

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2 Antworten zu Nein, wir brauchen keinen Wahlführerschein! Eine Replik auf den Beitrag von Gordian Ezazi

  1. Hildegardt sagt:

    Leider viel zu verkopft geschrieben. Anstatt inhaltlich zu überzeugen, versucht hier jemand über die Maßen eloquent zu klingen, um über inhaltliche Mängel hinwegzutäuschen, bzw. fehlende Substanz vorzutäuschen.

    Deshalb wenig überzeugend.

  2. Kneidinger Mathias sagt:

    Ich bin für einen Wahlführerschein, da sehr viele Menschen wählen gehen die keine Ahnung haben was sie damit tun.

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