Politische Ungleichheit in modernen Demokratien: wie aus Bildungsferne Politikferne wird

Von Florian Rabuza

Politische Ungleichheit ist ein verbreitetes Phänomen in westlichen Demokratien. Bildung ist ein wichtiger Generator politischer Teilhabe, da z.B. die Stimmangabe bei Wahlen eng mit dem Bildungsniveau von Personen zusammenhängt. In diesem Blog-Beitrag wird gefragt, inwiefern Aspekte des Parteiensystems, insbesondere seine ideologisch-programmatische Polarisierung, ungleiche politische Teilhabe verstärken oder abschwächen kann. Die empirischen Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich eine stärkere Polarisierung der Parteiensysteme negativ auf die Partizipation niedrig gebildeter Wähler auszuwirken scheint.

„Deutschlands gespaltene Demokratie“. Das ist der Titel eines aktuellen Artikels des Handelsblatts. Die Autoren zitieren die Befunde einer wissenschaftlichen Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, deren Befunde dafür sprechen, dass die soziale Herkunft auch die politische Teilhabe bestimmt. Die soziale Kluft in Deutschland scheine sich zunehmend auch ins politische System zu übertragen. Diese Befunde sind nicht neu. Ungleiche politische Teilhabe ist ein Phänomen, das schon seit längerer Zeit in europäischen Ländern anzutreffen ist und auch öffentlich thematisiert wird. Es beschränkt sich keineswegs auf Länder wie die Vereinigten Staaten, auch wenn dieses Beispiel in entsprechenden Debatten immer prominent hervorgehoben wird und auch wenn der Großteil politikwissenschaftlicher Forschung zu diesem Thema von dort stammt. Gerade in Deutschland wird in jüngerer Vergangenheit immer häufiger die  soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen angeprangert, und es wird auf die Gefahren für die Demokratie hingewiesen, wenn sozial benachteiligte Gruppen, sei dies durch niedrigere Bildungsniveaus oder geringere Einkommen, der Urne immer häufiger fern bleiben.

Empirische Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Wahlbeteiligung in vielen europäischen Ländern sozial verzerrt ist. Mit sozialer Verzerrung wird die über- bzw. unterproportionale Wahlbeteiligung von Bevölkerungsgruppen bezeichnet, die sich durch demographische Merkmale wie Alter, Bildung, Erwerbsstatus oder Einkommen definieren. Soziale Verzerrung durch Bildung entsteht z.B. dann, wenn die Wahlbeteiligung unter Hochschulabgängern bedeutend höher ist als unter Menschen, die nur einen Hauptschulabschluss besitzen. Durch die Verzerrung der Wahlbeteiligung steigt das Risiko der Überrepräsentation der politischen Interessen der Gruppe, die häufiger partizipiert. Ein weiteres Argument, das in der Politikwissenschaft unter dem Begriff „Law of Dispersion“ bekannt ist, spielt in dieser Debatte eine bedeutende Rolle. Dieses Gesetz wurde 1937 von Herbert Tingsten formuliert und besagt, dass die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung größer wird, je niedriger die Wahlbeteiligung insgesamt ist. Diese Argumentation schlägt die Brücke zwischen niedriger Wahlbeteiligung und politischer Ungleichheit. Auf dieser Grundlage wird auch nachvollziehbar, dass sinkende Wahlbeteiligung nicht nur ein legitimatorisches sondern auch ein Problem der politischen Repräsentation bedeuten kann.

Die Ursachen politischer Ungleichheit: Welche Rolle spielen Parteiensysteme?

Die Fähigkeit und auch die Motivation, sich mit politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen, hängt in vielen Ländern, darunter auch Deutschland, eng mit dem Bildungsniveau einer Person zusammen. Dies kann dazu führen, dass bildungsferne Schichten sich von der Politik abwenden, wenn die kognitiven Kosten der Stimmabgabe (z.B. für die Beschaffung von Informationen) zu hoch sind.

Institutionen können einen bedeutsamen Einfluss auf die Wahlbeteiligung ausüben. Die Schwierigkeit in einigen Ländern, sich für das Wählerverzeichnis zu registrieren, ist ein prominentes Beispiel für Institutionen, die einen direkten und spürbaren Einfluss auf die Wahlbeteiligung nehmen. Die USA mit ihren im internationalen Vergleich komplizierten Registrierungsprocedere verzeichnen traditionell eine niedrige Wahlbeteiligung.  Es gibt aber auch institutionelle Arrangements, die exakt den gegenteiligen Effekt zeitigen. Länder wie Australien, Belgien und Luxemburg haben Wahlpflicht und verzeichnen traditionell eine sehr hohe Wahlbeteiligung. Und in den Niederlanden ist die Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen nach der Abschaffung der Wahlpflicht 1970 kontinuierlich gesunken. Einige US-amerikanische Politikwissenschaftler fordern deshalb schon seit längerem die Einführung einer Wahlpflicht mit Sanktionen bei Missachtung. Die Idee dabei lautet, dass man der sozialen Verzerrung der Wahlbeteiligung begegnet, indem man politikferne Gruppen, also Menschen, in deren Alltag Politik keine oder nur eine sehr geringe Rolle spielt und die sich vielleicht sogar schon vom politischen System entfremdet haben, dazu zwingt ihr demokratisches Recht auszuüben. Um diese Argumentation nachzuvollziehen, ist es hilfreich, sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, dass eine enge Verbindung zwischen der Höhe der Wahlbeteiligung und ihrer sozialen Verzerrung besteht. Alles was unternommen wird, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, kann zumindest potentiell auch zur Reduzierung einer sozialen Kluft innerhalb des Elektorats beitragen.

Neben solchen sehr sichtbaren institutionellen Aspekten des politischen Systems gibt es auch Eigenschaften, die auf den ersten Blick nicht so auffällig sind, deren Bedeutung für politische Ungleichheit aber nicht unterschätzt werden darf. Die Gestalt des Parteiensystems eines Landes ist ein solcher Kandidat. Sie kann nämlich die Schwierigkeit der Stimmabgabe bei Wahlen in bemerkenswerter Weise beeinflussen, indem Sie z.B. die politische Orientierung für den Bürger schwieriger oder leichter macht.

Zersplitterte und volatile Parteiensysteme mit vielen Parteien, in denen womöglich von Wahl zu Wahl auch noch neue Parteien auf den Plan treten oder andere wieder verschwinden, machen die Stimmabgabe bei Wahlen schwieriger. Der Akt des Wählens und auch die Informationssuche im Vorfeld der Wahl ist einfacher in Systemen, in denen z.B. zwei  ideologisch klar unterscheidbare Parteien seit einigen Jahrzehnten gegeneinander antreten. Dies gilt im Besonderen für die politikfernen gesellschaftlichen Gruppen, da sie für die Informationsbeschaffung einen größeren kognitiven Aufwand betreiben müssen als Menschen, die sich häufig mit Politik auseinandersetzen. Denn wie erwähnt, impliziert Bildungsferne in vielen Ländern auch Politikferne.

Polarisierung und soziale Verzerrung durch formale Bildung

Ein wichtiger Indikator zur Beschreibung der Struktur von Parteiensystemen ist die sog. Polarisierung. Sie ist eine statistische Maßzahl, die die ideologischen Unterschiede der parlamentarischen Parteien in einem Land zusammenfasst. Je größer die programmatisch-ideologischen Unterschiede sind, desto stärker polarisiert ist ein Parteiensystem und umso eindeutiger lassen sich die Parteien ideologisch voneinander unterscheiden. Ungarn ist ein Land mit vielen parlamentarischen Parteien, die sich zudem auf der gesamten Breite des ideologischen Spektrums verteilen. Folglich erzielt es hohe Werte bei unserem Polarisierungsmaß. Deutschland mit zwei dominanten Parteien, die sich ideologisch in der Mitte verorten lassen, erzielt demnach geringere Werte. Bei der Berechnung des Polarisierungsmaßes wird, wie auch in diesem Beitrag, häufig auch das relative parlamentarische Gewicht der einzelnen Parteien berücksichtigt. Wenn man nun der Argumentation folgt, dass Parteiensysteme, mit ideologisch-programmatisch ähnlichen Parteien die Stimmabgabe in kognitiver Hinsicht, z.B. in Bezug auf den Aufwand, der für das Beschaffen und Verarbeiten von Informationen zu Parteien und Kandidaten nötig ist,  schwieriger machen, weil klar akzentuierte Alternativen fehlen, dann sollte die Verzerrung der Wahlbeteiligung durch formale Bildung in ideologisch transparenteren Parteiensystemen geringer ausfallen.

Die Abbildung zeigt den Zusammenhang der Polarisierung von Parteiensystemen und der Höhe des Effekts formaler Bildung sich an Wahlen zu beteiligen. Die Effekte für die einzelnen Länder sind auf der Y-Achse abgetragen und entstammen vorher durchgeführten statistischen Analysen. Für jedes Land wurde in einem sog. Regressionsmodell separat geschätzt wie groß der Effekt formaler Bildung auf die Wahrscheinlichkeit ist, sich an einer nationalen Wahl zu beteiligen. Ein Wert von 0.05 bedeutet z.B., dass die Wahrscheinlichkeit einer Person sich an der Wahl zu beteiligen mit jedem zusätzlichen Jahr formaler Bildung um 5% steigt. Die Polarisierung des Parteiensystems entnimmt man der X-Achse. Höhere Werte implizieren stärker polarisierte Parteiensysteme.

Entgegen der Annahme scheint der Effekt formaler Bildung auf die Wahlbeteiligung und damit auch die soziale Verzerrung zugunsten höher Gebildeter mit zunehmender Polarisierung des Parteiensystems stärker zu werden. Dies erkennt man an der positiven Steigung der Geraden, die von links unten nach rechts oben aufsteigt. Ideologische Polarisierung hat demnach also keine Senkung, sondern eher eine Erhöhung der kognitiven Kosten der Stimmabgabe zur Folge.

(zum Vergrößern Grafik anklicken)

Graph (640x465)

Quelle: Eigene Berechnung. Höhere Zahlen implizieren stärkere Polarisierung. Der durchschnittliche Marginaleffekt zeigt die durchschnittliche Erhöhung der vorhergesagten Wahrscheinlichkeit der individuellen Wahlbeteiligung pro zusätzlichem Bildungsjahr. Je höher, desto stärker ist die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung durch Bildung. Dezimalziffern entsprechen Prozentpunkten. Daten: European Social Survey 2004, Dalton 2008.

 

Die Ergebnisse sind plausibel, denn man kann beispielsweise argumentieren, dass weniger polarisierte Parteiensysteme meist auch weniger Parteien haben. Weniger Parteien, die sich zudem ideologisch ähneln, machen es einfacher für die Parteien, die Wähler mit ihren Mobilisierungsversuchen zu erreichen. Wähler lassen sich durch häufig gehörte ähnliche politische Appelle eher überzeugen und geben ihre Stimme ab.

Seitens der Wähler kann man vermuten, dass ideologische Transparenz die Informationskosten der Stimmabgabe im Durchschnitt nicht zu senken scheint, sondern die durchschnittlich höhere Anzahl von Parteien in stärker polarisierten Systemen eine gewisse kognitive Überforderung bestimmter Wählergruppen zum Ergebnis hat. Die Vielzahl unterschiedlicher und sehr oft widersprüchlicher Informationen kann dazu führen, dass sich Menschen mental von der Politik zurückzuziehen. Das in polarisierten Systemen reichhaltigere programmatische Buffet scheint dem Wähler kaum mehr Appetit zu machen.

Was tun?

Verschiedene Aspekte haben einen Einfluss auf politische Ungleichheit. Doch sie können nicht in gleichem Maße beeinflusst werden. Es ist möglich, Gesetze zu ändern, die eine potentiell diskriminierende Wirkung entfalten oder solche zu verabschieden, die Anreize zur Beteiligung setzen. Wahlpflicht oder die Abschaffung aufwendiger Registrierungsverfahren sind Beispiele hierfür.

Die Struktur von Parteiensystemen sind hingegen genuin gewachsen und Ausdruck gesellschaftlicher Interessen. Man kann also nicht einfach das Wahlrecht mit dem Ziel reformieren, die Anzahl der Parteien zu verringern. Deshalb ist nicht nur die Politik gefragt soziale Ungleichheit politischer Teilhabe zu begegnen, indem sie den Wähler benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen deutlichere und attraktivere Angebote unterbreitet, sondern auch Bildungsinstitutionen und Medien müssen einen Beitrag leisten, Politik interessant und verständlich zu vermitteln und auf die Relevanz des demokratischen Wahlrechts hinzuweisen.

Verwendete Quellen

Gallego, Aina (2010): Understanding Unequal Turnout. Education and voting in comparative perspective In: Electoral Studies 29(2), 239-248.

Dalton, Russell (2008): The Quantity and the Quality of Party Systems. Party System Polarization, Its Measurement, and Its Consequences. In: Comparative Political Studies 41(7), 899-920.

DIW (2013): Politische Beteiligung. DIW Wochenbericht 42.

Handelsblatt: Deutschlands gespaltene Demokratie. (16.10.13), abgerufen am 5.11.13

Tingsten, Herbert (1937): Political Behavior: Studies in Election Statistics. P.S. King, London.

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2 Antworten zu Politische Ungleichheit in modernen Demokratien: wie aus Bildungsferne Politikferne wird

  1. Hey Florian,

    du hast mir ja schon von deiner Idee vom Effekt auf den Effekt von Bildung erzählt. Ich fand die Idee ja da schon echt gut. Ich finde auch das mit dem Blog eine sehr coole Sache. Hast du das nicht als Paper auch schon präsentiert? Wenn ja, würde ich das irgendwie noch verlinken oder als Beleg anführen, dass man nicht aus dem Blog zitieren muss, sondern auch noch eine Richtige Quelle hat.

    Außerdem wollte ich noch zum Paper selber was sagen: Ich hoffe du hast nach Wertorientierungen und Kirchgangshäufigkeit kontrolliert… denn du weißt ja…!

    Nee, jetzt im ernst:

    Polarisierte Parteiensysteme haben ja auch eine stärkere Konflikthaftigkeit und auch eine größere Unterscheidbarkeit der politischen Alternativen. Beides müsste aber einen positiven Effekt auf Wahlbeteiligung haben, da die Alternativen deutlicher sind.

    Gibt es also vielleicht eine Art Schwellwert, ab dem sich der Effekt der Polarisierung umkehrt?
    Denkbar wäre ja, dass – kontrolliert den beiden genannten Aspekten – Polarisierung zu Beginn positiv wirkt (wegen der besseren Unterscheidbarkeit der pol. Alternativen) und sich dann ab einem bestimmten Polarisierungsgrad das Vorzeichen des Effektes ändert. Und zwar an der Stelle, wenn die zusätzliche Polarisierung nicht mehr zur Unterscheidbarkeit der Alternativen beiträgt, sondern es zu komplex wird für die Bürger.

    Die Frage ist dann, ob man Konflikthaftigkeit und Unterscheidbarkeit der politischen Alternativen getrennt von Polarisierung erfassen könnte.

    Viele Grüße, Uwe

    • rabuza sagt:

      Lieber Uwe,

      danke für deinen Kommentar. Im Grunde genommen ist das ja zunächst einmal eine bivariate Geschichte, um zu sehen, ob Bildungseffekte und Polarisierung überhaupt in Beziehung stehen und ob es sich lohnt dem theoretischen Argument weiter nachzugehen. Die Idee eines kurvilinearen Effekts klingt theoretisch gut und ich probiere das bestimmt auch einmal aus. Letztendlich ist das einfach eine empirische Frage würde ich sagen: Let the data speak. Die Unterscheidung von Konflikthaftigkeit und Unterscheidbarkeit ist glaube ich schwierig, weil beides ja eine Funktion der ideologischen Position der Parteien ist. Eventuell könnte man so eine Zahl wie die Anzahl der möglichen Koalitionen nehmen. Je weniger, desto konflikthafter. Aber das ist jetzt aus der Hüfte geschossen. Darüber müsste man einmal länger nachdenken.

      Gruß Florian

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